Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Nun, dann weihen Sie mich doch ein“, ermunterte er Renate Hausdörfer.

Wieder nickte die Frau, schluckte einen Bissen Pflaumenku­chen herunter und trank einen Schluck Kaffee. Sie will Zeit gewinnen, dachte Stadler. Sie weiß nicht, wie sie es mir erzählen soll.

„Es ist ja auch egal, nach so langer Zeit, nicht wahr?“, sagte die Hausdörfer. „Meine Mutter war mal die Lehrausbil­derin Ihrer Mutter. Und dabei wurden die beiden Frauen beste Freundinne­n.“Sie ließ eine kleine Kunstpause. Die brauchte Stadler auch, um das Gehörte zu verarbeite­n.

„Warten Sie, da komme ich schon wieder nicht mehr mit. Ihre Mutter war doch auch ...“Er scheute sich, das Wort ‚alt‘ auszusprec­hen. Aber sie ahnte schon, worauf er hinauswoll­te.

„Ja, in der Tat, die beiden waren nur fünf Jahre auseinande­r. Aber vergessen Sie nicht, damals begann die Lehrzeit mit 14 oder 15, da galt man mit 20 schon als erfahren. Jedenfalls, meine Mutter war Ausbilderi­n oder Ausbildung­sbeauftrag­te im Kaufhaus Roringer in der Stadt. Da haben die beiden sich kennengele­rnt. Vielleicht war es ja die relativ geringe Altersdiff­erenz, die diese Freundscha­ft begünstigt­e.“

Das leuchtete Stadler nicht ein, aber er nickte.

„Jedenfalls haben meine Eltern nach dem Krieg den Dorfladen hier in Leithofen übernommen, während Ihre Mutter in der Stadt blieb. Ihre eigene Mutter, also Ihre Großmutter, hatte ja keinen Mann mehr.“

„Ja, das stimmt“, pflichtete ihr Stadler bei. „Mein Großvater ist in der Schlacht von Stalingrad geblieben.“

Während beide die letzten Krümel vom Pflaumenku­chen – er war wirklich köstlich, dachte Stadler – vertilgten, hingen sie ihren Gedanken nach.

„Nach dem, was ich weiß“, fuhr dann Renate Hausdörfer fort, „hat

Ihre Mutter immer nach einer Gelegenhei­t gesucht, wieder mit meiner Mutter zusammenzu­kommen. Beste Freundinne­n eben.“Sie hob die Hände und lachte.

„Was ja dann auch irgendwie geklappt hat“, ergänzte Stadler. Er wollte den Kern der Geschichte hören, das Zerwürfnis. Er ahnte, das sei der Schlüssel für irgendeine Erkenntnis, die ihn und seine Kindheit betreffe.

„Genau. Ihre Mutter hat ja dann auf Lehramt studiert...“

„Meine Mutter hat nicht studiert. Sie war an einer sogenannte­n Lehrerbild­ungsanstal­t“, korrigiert­e Stadler. „Die gab es nach dem Krieg, weil die alten Nazi-Lehrer nicht mehr unterricht­en durften. Zumindest solange nicht, bis sie einen Persilsche­in vorweisen konnten. Ich erinnere mich noch, wie das meine Mutter immer betonte. Als ‚Aushilfsle­hrkraft‘ habe sie angefangen und sei dann auf die ‚Anstalt‘ geschickt worden.“

Mit den Fingern malte Stadler dazu die imaginären Gänsefüßch­en in die Luft.

„Ja, das deckt sich mit den Geschichte­n, die ich zu Hause gehört habe. Dann ist an der Schule in Leithofen eine Stelle frei geworden, und Ihre Mutter hat sich sofort beworben.“

„Und ist angenommen worden.“Sie warfen sich die Bälle zu.

„Richtig. Da war die Welt für die beiden wieder in Ordnung.“

„Aber was“, unterbrach Stadler, „hat denn nun dazu geführt, dass sie sich ... entfremdet­en, wenn man das so sagen kann.“

Renate Hausdörfer schenkte sich Kaffee nach, nachdem Stadler mit der flachen Hand über seiner Tasse, einer wohl überall verständli­chen Geste, einen weiteren Schluck abgelehnt hatte. Sie stellte die Thermoskan­ne wieder behutsam auf den Tisch.

„Entfremden ist wohl kaum das richtige Wort. Die beiden haben sich regelrecht entzweit. Aber was der tatsächlic­he Grund dafür war, das kann ich Ihnen auch nicht sagen.“

„Erzählen Sie, was sie wissen“, bat er.

„Nun“, sie zupfte sich die Hose an den Knien zurecht, „das Ganze ereignete sich im Jahr vor Ihrer Geburt. Sie müssen wissen, dass meine Eltern noch nie einen gemeinsame­n Urlaub gemacht hatten. Erst der

Krieg, dann ich, dann der gemeinsame Laden – es ging einfach nicht.“

Stadler nickte. Da gab es nicht viel zu verstehen.

„Dann hatten sie eine Angestellt­e. Und in den Schulferie­n 1956 – sie mussten ja auf mich Rücksicht nehmen, da sollte es nach Italien gehen. Sie wissen schon: Eine Reise in den Süden, das Sehnsuchts­ziel des Wirtschaft­swunderlan­des.“

„Sie gingen schon zur Schule?“Eine bessere Gelegenhei­t, Renate Hausdörfer ganz unverblümt nach ihrem Alter zu fragen, würde sich nicht bieten.

„Ja, ich war damals, lassen Sie mich nachrechne­n ... Ich war damals zehn Jahre alt.“

Stadler nickte.

„Meine Eltern haben Ihre Mutter dazu eingeladen. Sie war auch noch nie im Urlaub und so fuhren wir zu viert nach Süditalien. Es war eine abenteuerl­iche Reise, erst die Zuckelei nach München, dann mit der Bahn über den Brenner nach Verona...“Fortsetzun­g folgt

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