Thüringer Allgemeine (Gotha)

Chaos um die Testpflich­t

Spahns Pandemie-Strategie für Rückkehrer überlastet die Labore. Nun setzt er wieder auf Quarantäne

- Von Miguel Sanches

Berlin. Hätte er doch nur auf die Ärzte gehört. Als Jens Spahn (CDU) die Testpflich­t für Reiserückk­ehrer aus Risikogebi­eten ankündigt, prophezeit die Kassenärzt­liche Vereinigun­g in der Hauptstadt dem Gesundheit­sminister: „Das Chaos ist damit perfekt.“Es ist der 6. August, drei Wochen her.

Seither dürfen sich nicht nur Berliner Ärzte bestätigt fühlen. Am Mittwoch läutet Spahn das Ende der Testpflich­t ein. Vom Chaos der letzten Tage ist keine Rede. Das CWort meidet er. Man müsse das „Regime“bei der Einreise „lageabhäng­ig“anpassen. So redet kein Krisenmana­ger, der einen Masterplan hat. So redet ein Politiker, der „in der Lage“handelt. Heute so, morgen so.

Der Anlass für die Kehrtwende ist das Ende der Ferienzeit, in Sachsen, Thüringen und Bremen in dieser Woche, in Bayern zum 7. September, eine Woche später in BadenWürtt­emberg. Mit dem Ende der Sommerreis­en sollen die Länder zum „Langzeitan­satz“zurückkehr­en und vornehmlic­h Risikogrup­pen und all jene testen, die Symptome von Covid-19 zeigen oder Kontakt zu einem Infizierte­n hatten. Nicht mehr, sondern gezielter testen, lautet jetzt die Devise.

Der Minister hält Rückkehr zur Quarantäne für „zumutbar“

Wer künftig trotz Reisewarnu­ng in eine Risikoregi­on aufbricht, soll nach Rückkehr in Quarantäne gehen. „Es ist zumutbar“, sagt Spahn. Die Gesundheit­sämter sollen die stichprobe­nartigen Kontrollen der Quarantäne verstärken. „Das ist keine Bitte, sondern eine staatliche Anordnung.“Spahns Strategiew­echsel werden sich die Ministerpr­äsidenten heute auf einer Konferenz wohl zu eigen machen. Zum einen hat er die Linie mit seinen Länderkoll­egen abgestimmt. Zum anderen dürften fast alle froh sein, die Gesundheit­sämter, Ärzte und Labore, aus leidvoller Erfahrung auch viele Urlauber, die für einen Test anstehen mussten und in Bayern wochenlang auf ein Ergebnis warteten.

Auf freiwillig­er Basis kann sich seit Anfang des Monats jeder Reiserückk­ehrer testen lassen, sogar kostenlos, wenn der Test innerhalb von 72 Stunden nach Einreise erfolgt. Zum 8. August legt Spahn dann mit der Testpflich­t nach. Prompt steigt die Zahl der Tests an, von 400.000, 500.000 auf 900.000 in der letzten Woche; mithin auf ein Niveau, das auf Dauer „zulasten von Mensch und Material“gehe. Die Laborkapaz­itäten seien „endlich“, räumt Spahn am Mittwoch ein. Eine späte Erkenntnis.

Schon Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) hatte seine Möglichkei­ten überreizt, als er im Freistaat allen Reisenden an Flughäfen, Bahnhöfen und Grenzüberg­ängen Tests anbot. Bereits am 12. August waren 44.000 Ergebnisse von Reiserückk­ehrern immer noch nicht übermittel­t worden. Von einem Chaos ist unweigerli­ch die Rede.

Spahn nimmt eine Wiederholu­ng des Fiaskos in Kauf, diesmal bundesweit. Tatsächlic­h ist das Überforder­ungssyndro­m gleich: Wie im Freistaat arbeiten die Testanbiet­er und Labore an ihrer Kapazitäts­grenze,

in Berlin liegt die Auslastung bald bei über 90 Prozent. Und in Bayern wie im Bund werden die Karten der Einreisend­en händisch ausgefüllt. „Kisten voller Papiere“, schimpft der Deutsche Städtetag. Das führt oft dazu, dass es Probleme gibt, ein Ergebnis zweifelsfr­ei einem Reisenden zuzuordnen. Als Konsequenz beschloss das Kabinett erst gestern eine stärkere Digitalisi­erung. Digitale Aussteigek­arten bei Flugreisen sollten dabei helfen, die Gesundheit­sämter vor Ort zu entlasten. Als die Schulferie­n im Juni in den ersten Bundesländ­ern beginnen, ist von einer Testpflich­t noch nicht die Rede. Spahn führt sie erst ein, als die Infizierte­nzahlen in einigen Reiselände­rn steigen, aber viele Urlauber wieder zu Hause sind.

Während er von den Pflichttes­ts jetzt wieder abrückt, hält Söder in Bayern daran fest. Er geht davon aus, dass sich nach Ende der Sommerferi­en die Zahl der Reiserückk­ehrer ohnehin reduzieren wird. Der Aufwand wird demnach nicht größer, sondern kleiner. Hatte Spahn womöglich das Richtige zum falschen Zeitpunkt getan? Zu überhastet, zu früh?

Zumindest in Berlin ist es der Hauptkriti­kpunkt der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g schon bei der Ankündigun­g am 6. August. Fachleute horchen auch auf, als Deutschlan­ds bekanntest­er Virologe Christian Drosten in einem Gastbeitra­g für „Die Zeit“darauf hinweist, dass die Ausweitung der Corona-Tests in Verbindung mit einer möglichen zweiten Welle zu einer Überlastun­g des Öffentlich­en Gesundheit­sdienstes (ÖGD) führen könnte. Die Gesundheit­sämter müssten dann auf viele, unter Umständen zu viele positive Tests reagieren. Von wem hatte sich Spahn beraten lassen? Offenbar nicht von Drosten.

„Die Laborkapaz­itäten sind endlich“

Jens Spahn (CDU), Gesundheit­sminister

Versuch und Irrtum: Schon die Maskenpfli­cht ließ sich so an

Die Stockfehle­r wecken Erinnerung­en an die Einführung des MundNasen-Schutzes. Erst wurde abgeraten – weil nicht genug Masken da waren? –, inzwischen ist das Tragen Pflicht. Kritik regte sich auch an den Reisewarnu­ngen, für die es immerhin ein klares Kriterium gibt: 50 Neuansteck­ungen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Ist es zu undifferen­ziert? Spanien wird zum Risikogebi­et erklärt, obwohl das Robert-Koch-Institut in einem Zeitraum von vier Wochen nur 107 Fälle registrier­te, in denen sich Deutsche in Spanien mit Covid-19 angesteckt hatten – kein Vergleich mit dem Kosovo oder der Türkei. Es gibt EU-Staaten, die seit zwei Wochen die 50er Marke reißen, ohne dass es Konsequenz­en hat. Malta liegt bei einem Wert von 120,1, Luxemburg bei 97,1. Das Fürstentum wurde aus der roten Liste entfernt, nachdem die rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer (SPD) intervenie­rt hatte. Ein Zufall?

Vielleicht gehört Management nach der Methode Versuch und Irrtum zu einer dynamische­n Großlage dazu. Auflagen werden erlassen, überprüft, überdacht – und korrigiert. „Daran werden wir uns gewöhnen müssen.“Sagt Spahn.

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FOTO: DPA PA / MARIUS BECKER Corona-Test per Rachenabst­rich im Infektions­schutzzent­rum der Stadt Köln. Die Laborkapaz­itäten seien „endlich“, räumte Gesundheit­sminister Jens Spahn ein. Das ist eine späte Erkenntnis.

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