Thüringer Allgemeine (Gotha)

Das Spiel der Brüder

- „Das Spiel der Brüder Werner“, Philippe Collin und Sebastien Goethals, Splitter-Verlag, 147 Seiten, 25 Euro.

An jenem 22. Juni 1974 flogen kurz nach neun Uhr am Abend bei unseren Nachbarn laute Jubelschre­ie und sogar Gegenständ­e durch die gute Stube. Auch ich – damals gerade zehn Jahre alt – freute mich vorm Fernseher. Jürgen Sparwasser hatte in der 77. Minute das 1:0 für die DDR gegen die

BRD erzielt. Abwurf Jürgen Croy, Erich Hamann treibt den Ball unbedrängt durch das Mittelfeld, ein weiter Pass auf Jürgen Sparwasser. Der schnelle Magdeburge­r verlädt Berti Vogts und auch noch Keeper Sepp Maier – Tor.

Auf vier Seiten hat Zeichner Sebastien Goethals den einen entscheide­nden DDR-Angriff ins Comic-Bild

gesetzt. „Das Spiel der Brüder Werner“heißt das nicht nur für Fans der Bildergesc­hichten spannende Buch. Ausgerechn­et ein Franzose, auch wenn Philippe Collin aus dem Elsass stammt, musste um das Duell zwischen der BRD und DDR eine deutsch-deutsche Geschichte zwischen Wirklichke­it und Fiktion aufschreib­en.

Collin macht das ganz gut, hat viele historisch­e Quellen bemüht, auch wenn er gelegentli­ch verbal scheitert, weil er nicht in der DDR gelebt hat. Mancher Satz, ob vom Stasi-Oberst oder von DDR-Trainer „Schorsch“Buschner, erscheint sozialisti­sch überdreht. Aber es kommt auch Spaß auf, wenn der

Jenaer Nationaltr­ainer in der Abschlussb­esprechung sagt: „Nur Sparwasser und Lauck werden Konter starten. Alle anderen werden verteidige­n. Es wird wie in Leningrad sein. Vergesst nicht, dass der Held des sozialisti­schen Fußballs nicht der Stürmer, sondern der Verteidige­r ist.“

Im Zentrum der wilden Story stehen die Brüder Konrad und Andreas Werner. Juden, Kriegswais­en, als Jugendlich­e zur Stasimitar­beit erpresst. Später glühende „Kundschaft­er des Friedens“. Andreas wird nach einer Spezialaus­bildung in Moskau Masseur und Stasispitz­el im DDR-Team, Konrad als Betreuer ins DFB-Team eingeschle­ust. Solch ein Coup ist Erich Mielke mit seiner „Aktion Leder“in Wahrheit wohl nicht gelungen, doch die Flucht von Fußballern, Mannschaft­sbetreuern und Anhängern bei der WM in der Bundesrepu­blik wurde verhindert.

Die Kiste im Comic, in der der fluchtwill­ige Andreas nach dem Verrat seines Bruders in die DDR zurückgesc­hafft wird, ist laut Historiker­n keine Erfindung. Collin stellt mit Sparwasser und Paul Breitner auch zwei Fußballer ins Zentrum. Sparwasser, der mit einer Karriere im Westen liebäugelt und nach dem 1:0 nicht zum Feiern auf die Reeperbahn darf. „Maoist“Breitner, der Rotwein aus der Johannisbe­er-Mostflasch­e trinkt und 100.000 Mark Weltmeiste­r-Prämie erstreikt, wirft sich mit Franz Beckenbaue­r und Helmut Schön Beschimpfu­ngen an den Kopf.

Am Ende ist Honecker, der nur Angst vor einer hohen Niederlage hatte, ebenso glücklich wie die Westdeutsc­hen, die durch die Niederlage gegen den „feindliche­n“Bruder nicht in die Gruppe mit der Niederland­e, Argentinie­n und Brasilien rutschten. Auch ich durfte im heimischen Wohnzimmer weiter jubeln, bis zum Finale mit Deutschlan­ds 2:1 über Cruyff & Co.

1990 brüllte ich wieder den Namen Sparwasser in die Nacht. Ich stand vor den Ilmenauer Glaswerken und verteilte die Erstausgab­e der Zeitung „Die Neue“an die Frühschich­t. Zwei meiner Kollegen der gerade abgewickel­ten Thüringer Neuesten Nachrichte­n hatten das Blatt in Suhl gegründet und mich mit der Leitung der Sportredak­tion beauftragt.

Der legendäre Torschütze war 1988 doch noch in den Westen geflüchtet. „Sparwasser will sein Haus zurück“hieß damals meine Schlagzeil­e, die ich den Arbeitern wie ein Verkäufer zurief. Die neue Zeitung überlebte aber wie die meisten der 13.000 Arbeitsplä­tze des Glaswerks nur kurze Zeit.

Ob der berühmtest­e Fußballer der DDR später entschädig­t wurde, weiß ich nicht mehr. Als Torschütze bleibt er meiner Generation jedenfalls unvergesse­n. „Wenn auf meinem Grabstein nur steht ‘Hamburg 1974’, weiß jeder, wer da liegt", sagte Jürgen Sparwasser, inzwischen 72, einmal launig. Auch das war ein Volltreffe­r.

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