Thüringer Allgemeine (Gotha)

So rasant steigen die Zahlen

Nie zuvor wurden an einem Tag so viele Neuinfekti­onen gemeldet. Doch die Lage ist anders als im Frühjahr

- Von Theresa Martus und Laura Réthy

Berlin. Es ist ein bitterer Rekord: 6638 Neuinfekti­onen mit Sars-CoV2 in Deutschlan­d meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) am Donnerstag – rund 1500 mehr als noch am Vortag. Nicht einmal im Frühjahr, als sich das Virus zum ersten Mal in Deutschlan­d ausbreitet­e, wurden an einem Tag so viele neue Ansteckung­en gemeldet. Auch die Zahl der Toten stieg zuletzt um 33. Insgesamt sind bislang 9710 Menschen in Deutschlan­d an oder mit dem Virus gestorben.

Hinter den Daten verbirgt sich eine Dynamik im Infektions­geschehen, die Experten große Sorgen bereitet: Die Zahl der Fälle, sie steigt nicht nur, sondern auch immer schneller. Längst ist die zweite Welle der Pandemie im Bereich des exponentie­llen Wachstums, vor dem Wissenscha­ftler eindringli­ch gewarnt hatten. Noch im September hatte Bundeskanz­lerin Angela Merkel versucht, mit einer Modellrech­nung klarzumach­en, warum das Infektions­geschehen gebremst werden muss. Das abschrecke­nde Szenario damals: 19.200 Neuinfekti­onen pro Tag an Weihnachte­n. Doch wenn die Kurve nicht abflacht, wird dieser Wert deutlich früher erreicht sein. Auch am Mittwochab­end, nach dem Treffen der Ministerpr­äsidenten, kam Merkel wieder darauf zu sprechen. Was sie beunruhige, sagte sie, das sei der exponentie­lle Anstieg. Den müsse man stoppen. „Sonst wird das kein gutes Ende führen.“

Der Anteil der positiven Tests steigt

Doch ist der steile Anstieg der gemeldeten Infektions­zahlen tatsächlic­h so besorgnise­rregend? Denn im Vergleich zum Frühjahr wird deutlich mehr getestet. Die Zahl der Corona-Tests schwankt seit Mitte August zwischen rund 1,1 Millionen und 1,2 Millionen in der Woche. Ende März, als die Zahl der Neuinfekti­onen hierzuland­e auch auf über 6000 geklettert war, lag die Zahl der Tests bei 360.000 – also bei einem Drittel der aktuellen Testzahlen. In mehreren Labors gibt es laut RKI aktuell einen Rückstau, einige hätten Lieferschw­ierigkeite­n für Reagenzien angegeben. „Das RKI erreichen in den letzten Wochen zunehmend Berichte von Laboren, die sich stark an den Grenzen ihrer Auslastung befinden“, schreibt das Institut im Lageberich­t vom Mittwoch. Der zusätzlich­e Testbedarf durch Urlauber nach Einführung des Beherbergu­ngsverbots mit der Option zu einer „Freitestun­g“habe die Situation weiter verschärft.

Doch allein mit der gestiegene­n Zahl der Tests ist der Rekord der Neuinfekti­onen nicht zu erklären: Denn nach Angaben des RKI vom Mittwochab­end steigt auch der Anteil der positiven Tests an der Gesamtmeng­e

der Tests: von 0,74 Prozent Ende August auf 2,48 Prozent in der Woche vom 5. bis 11. Oktober. „Die stete Steigerung der Infektions­zahlen,

die wir derzeit sehen, ist sehr real“, bestätigt Professor Bernd Salzberger, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Infektiolo­gie.

In Dortmund gilt auf einigen Straßen auch im Freien eine Maskenpfli­cht.

„Ich bin noch nicht ganz so beunruhigt wie im Frühjahr, weil weniger Infizierte schwer erkranken“, sagt der Infektiolo­ge. Er sei jedoch überrascht von der schnellen Steigerung. Sorge machen Salzberger vor allem die Infektions­zahlen bei den über 60-Jährigen, die derzeit den größten Anstieg zu verzeichne­n haben.

Lange waren es vor allem junge Menschen, die die Infektions­zahlen etwa durch Partys oder Reisen in die Höhe getrieben haben. Viele mögen sich gedacht haben: Die Verläufe bei den Jüngeren sind in den allermeist­en Fällen mild, kein Grund zur Sorge. Doch Experten warnten schon vor Wochen: Die Ansteckung­en werden von den Jungen zu den Alten durchsicke­rn. Irgendwo im Alltag begegne man sich immer. Nun scheinen sich die Befürchtun­gen zu bewahrheit­en, die höheren Altersgrup­pen ziehen nach. „Ich glaube nicht, dass wir die Situation noch umkehren werden“, sagt Salzberger. Der Infektiolo­ge fürchtet: „Die Lage in Deutschlan­d könnte rasch schlimmer werden.“

Schlimmer, weil ältere Menschen häufig schwerer erkranken und eher im Krankenhau­s behandelt werden müssen. Also werden wahrschein­lich auch die Krankenhäu­ser die steigenden Infektions­zahlen bald deutlich zu spüren bekommen. „Allein aus dem Geschehen der letzten 14 Tage wird etwas in den Kliniken ankommen“, ist sich Salzberger sicher. Schon jetzt sickere die Situation dort langsam ein. Das lässt sich mit Zahlen belegen. So meldete die Deutsche Interdiszi­plinäre Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (Divi) am Donnerstag 655 Covid-19-Patienten auf Intensivst­ationen deutschlan­dweit, 53 mehr als am Vortag und 150 Fälle mehr im Vergleich zur Vorwoche. Wieder eine Kurve, die nach oben zeigt. Die Hälfte dieser Patienten muss laut Divi beatmet werden.

„Ich glaube nicht, dass wir die Situation noch umkehren werden.“Prof. Bernd Salzberger, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Infektions­forschung

Steigende Patientenz­ahlen auf Intensivst­ationen sind kein gutes Vorzeichen, so viel weiß man nach zehn Monaten Pandemie-Erfahrung: Denn steigt die Zahl der Intensivpa­tienten, wird auch die Zahl der Toten steigen. Bislang sind von rund 18.500 intensivme­dizinisch behandelte­n Covid-19-Patienten rund 4340 verstorben – fast ein Viertel.

Immerhin: Das deutsche Gesundheit­ssystem ist derzeit weit davon entfernt zu kollabiere­n. Der überwiegen­de Teil der Kliniken im Land meldet freie Kapazitäte­n – auch auf den Intensivst­ationen, nur 88 von 1227 Häusern geben an, ausgelaste­t zu sein. „Ich denke auch nicht, dass wir wieder in eine Situation wie im Frühjahr kommen werden“, sagt Salzberger.

Doch wie ein rasantes Infektions­geschehen das ändern kann, zeigt sich derzeit in zahlreiche­n europäisch­en Nachbarlän­dern. Tschechien, wo die Rate von Neuinfekti­onen in 14 Tagen im Schnitt zuletzt bei 581,3 Menschen je 100.000 Einwohner lag, will 4000 Krankenhau­sbetten kaufen. In Polen hat die Zahl der Neuansteck­ungen zum ersten Mal die Schwelle von 8000 überschrit­ten, auch in Österreich und der Schweiz sind die Spitzenmar­ken aus dem Frühjahr übertroffe­n worden. Großbritan­nien meldete am Mittwoch fast 20.000 Neuinfekti­onen. Selbst in Italien, wo die Pandemie lange unter Kontrolle war, steigt die Infektions­kurve seit Oktober wieder an.

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