Thüringer Allgemeine (Gotha)

Stolpern wir in den Lockdown?

Nach „historisch­em Corona-Gipfel“: Mehrere Länder kippen Beherbergu­ngsverbot. Viele Fragen bleiben offen

- Von Miguel Sanches und Alessandro Peduto

Berlin. Ob es reicht? Am Tag nach den Beratungen zwischen Bund und Ländern über gemeinsame Wege im Kampf gegen die Pandemie bleibt dies die zentrale Frage. „Werden wir sehen“, lautet die nüchterne Antwort des bayerische­n Ministerpr­äsidenten Markus Söder. „Vieles liegt auf Wiedervorl­age.“Der CSUChef macht keinen Hehl daraus, dass er sich im Ergebnis schärfere und bundeseinh­eitliche Maßnahmen gewünscht hätte. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat ihre Unzufriede­nheit über die Beschlüsse deutlich gemacht. Ihre „Unruhe“sei noch nicht weg, sagt Merkel in Anbetracht rapide steigender Ansteckung­szahlen. Es könne sein, dass man in ein paar Wochen sagen müsse: „Wir haben diesen Anstieg nicht gestoppt.“Söder glaubt sogar, Deutschlan­d sei einem neuen Lockdown „viel näher, als wir es wahrhaben wollen“. Auch der Koalitions­partner SPD glaubt, Bund und Länder müssten die weitere Entwicklun­g beobachten „und, wenn nötig, weitere Maßnahmen ergreifen“, sagten die beiden Parteivors­itzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans unserer Redaktion. Wie ein erneuter Lockdown aussehen könnte, zeigt ein Blick zu den europäisch­en Nachbarn. Viele haben das öffentlich­e Leben wieder herunterge­fahren. Bei uns sieht es dagegen so aus, als drohe sich das Land bei der Pandemiebe­kämpfung im föderalen Regelungsw­irrwarr zu verzetteln. Die Länder gehen vielfach unterschie­dliche Wege.

Beherbergu­ngsverbot

Dies ist aktuell der strittigst­e Punkt in der Bekämpfung der Pandemie. Die Regelung sieht vor, dass Reisende aus Corona-Hotspots innerhalb Deutschlan­ds nur dann in Hotels und Gasthäuser­n übernachte­n dürfen, wenn sie einen höchstens 48 Stunden alten negativen CoronaTest vorlegen können. Die Runde bei Merkel hatte Mittwoch keine gemeinsame Linie gefunden und die Entscheidu­ng auf Anfang November vertagt. Das Saarland und Sachsen haben dagegen Fakten geschaffen und das Beherbergu­ngsverbot am Donnerstag aufgehoben. Es treffe Menschen, „die nichts mit der Krankheit zu tun haben“, und sei unverhältn­ismäßig, sagte Regierungs­chef Michael Kretschmer (CDU).

Am selben Tag fielen zudem in Baden-Württember­g und Niedersach­sen Gerichtsen­tscheidung­en, die das Beherbergu­ngsverbot für unzulässig erklärten. In Brandenbur­g und Mecklenbur­g-Vorpommern liegen ebenfalls mehrere Eilanträge bei den zuständige­n Oberverwal­tungsgeric­hten. Trotzdem wollen sieben der 16 Bundesländ­er vorerst an der Regelung festhalten. Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) übte in seinem aktuellen Lageberich­t indirekt Kritik am Beherbergu­ngsverbot. Durch den zusätzlich­en Testbedarf für Urlauber würden Laborkapaz­itäten gebunden.

Scharfe Kritik kommt aus Verbänden und Politik. Der Präsident des Deutschen Landkreist­ages, Reinhard Sager, sagte unserer Redaktion: „Wir sollten auf wirkungsvo­lle Maßnahmen setzen, die wir über den Winter durchhalte­n können. Ein Beherbergu­ngsverbot gehört nicht dazu.“Der Hotel- und Gaststätte­nverband (Dehoga) befürchtet derweil mehr Insolvenze­n in der Branche. Der Schaden für die Hoteliers sei durch die Beherbergu­ngsverbote immens, sagte die Hauptgesch­äftsführer­in Ingrid Hartges unserer Redaktion. „Dass sich die Bundesländ­er nicht auf eine Aufhebung der Beherbergu­ngsverbote einigen konnten, ist bitter.“Handwerksp­räsident

Hans Peter Wollseifer mahnte, unüberscha­ubare Regeln trügen „schwerlich dazu bei, die so dringend notwendige Akzeptanz für die Sicherheit­smaßnahmen aufrechtzu­erhalten“. GrünenFrak­tionschefi­n Katrin GöringEcka­rdt sagte, mit dem Beherbergu­ngsverbot bleibe „in einem zentralen Bereich ein Flickentep­pich“. Dass diese Entscheidu­ng bis nach den Herbstferi­en verschoben wurde, müsse „vielen Betroffene­n wie ein schlechter Witz vorkommen“.

Beschränku­ng privater Treffen

Auch hier herrscht Uneinigkei­t. Der Beschluss sieht vor, dass es in Regionen mit einem Wert über 35 Neuinfekti­onen eine Begrenzung von 25 Teilnehmer­n im öffentlich­en und 15 Teilnehmer­n im privaten Raum geben soll. Ab 50 Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen sollen private Feiern auf maximal zehn Teilnehmer im öffentlich­en Raum sowie auf höchstens zehn Teilnehmer aus höchstens zwei Hausstände­n im privaten Raum begrenzt werden. Gleich fünf Ministerpr­äsidenten machten jedoch in Protokolln­otizen klar, dass sie den Bürgern nicht vorschreib­en wollen, wie sie in den eigenen vier Wänden feiern sollen. RheinlandP­falz, Hessen und Nordrhein-Westfalen wollen Beschränku­ngen der Teilnehmer­zahl für Treffen in privaten Räumen nur „dringend empfehlen“. Sie schreckten vor Auflagen zurück „aufgrund des erhebliche­n Eingriffs in die Unverletzl­ichkeit der Wohnung“. Niedersach­sen meldete einen Prüfvorbeh­alt an. Diese fünf Länder haben zusammen rund 40 Millionen Einwohner – fast die Hälfte der Bevölkerun­g könnte also ausgenomme­n sein.

Sperrstund­e

Eine Sperrstund­e für die Gastronomi­e wird nun wohl zumindest nach und nach von den Landesregi­erungen in Angriff genommen. Dies gilt als Empfehlung bei 35 und verbindlic­h ab 50 Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner in einer Woche. Bei der Uhrzeit, ab der eine Sperrstund­e gelten soll, gibt es keine Festlegung. Unklar ist zudem, ob Ordnungsäm­ter und Polizei derzeit überhaupt genügend Personal für Kontrollen aufbringen können.

Maskenpfli­cht

Geplant ist eine „ergänzende Maskenpfli­cht“in Städten und Regionen mit stark steigenden CoronaZahl­en. Sie soll ab 35 Neuinfekti­onen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen auch dort gelten, wo Menschen dichter beziehungs­weise länger zusammenko­mmen. Im Freistaat wurden die Regeln am Donnerstag zusätzlich verschärft: Ab 35 Neuansteck­ungen pro 100.00 Einwohner müssen Schüler ab der fünften Klasse im Unterricht sowie Studenten in der Vorlesung eine Maske tragen. Ab 50 Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner gilt die Maskenpfli­cht auch in Grundschul­en.

Risikogebi­ete abriegeln?

Zur Eindämmung der Pandemie schließt RKI-Präsident Lothar Wieler eine Abriegelun­g von Risikogebi­eten nicht mehr aus. „Vor neun Monaten habe ich in einem ähnlichen Interview gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann. Inzwischen kann ich mir vorstellen, dass solche Maßnahmen durchgefüh­rt würden“, sagte Wieler dem Sender Phoenix. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) dringt derweil auf schärfere Regeln für Einreisen aus Risikogebi­eten im Ausland. Das gehe aus einem entspreche­nden Gesetzentw­urf hervor, berichtete das Nachrichte­nportal „ThePioneer“. Das Gesundheit­sministeri­um solle ermächtigt werden, per Verordnung weitreiche­nde Vorgaben für Reisende, Airlines, Bus- oder Bahn-Unternehme­n zu erlassen.

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FOTO: HAYOUNG JEON/POOL/EPA-EFE/SHUTTERSTO­CK Auf dem Weg zur Pressekonf­erenz: Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU/r.), Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD/l.) und Regierungs­sprecher Steffen Seibert (2. v. l.).
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