Stolpern wir in den Lockdown?
Nach „historischem Corona-Gipfel“: Mehrere Länder kippen Beherbergungsverbot. Viele Fragen bleiben offen
Berlin. Ob es reicht? Am Tag nach den Beratungen zwischen Bund und Ländern über gemeinsame Wege im Kampf gegen die Pandemie bleibt dies die zentrale Frage. „Werden wir sehen“, lautet die nüchterne Antwort des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. „Vieles liegt auf Wiedervorlage.“Der CSUChef macht keinen Hehl daraus, dass er sich im Ergebnis schärfere und bundeseinheitliche Maßnahmen gewünscht hätte. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat ihre Unzufriedenheit über die Beschlüsse deutlich gemacht. Ihre „Unruhe“sei noch nicht weg, sagt Merkel in Anbetracht rapide steigender Ansteckungszahlen. Es könne sein, dass man in ein paar Wochen sagen müsse: „Wir haben diesen Anstieg nicht gestoppt.“Söder glaubt sogar, Deutschland sei einem neuen Lockdown „viel näher, als wir es wahrhaben wollen“. Auch der Koalitionspartner SPD glaubt, Bund und Länder müssten die weitere Entwicklung beobachten „und, wenn nötig, weitere Maßnahmen ergreifen“, sagten die beiden Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans unserer Redaktion. Wie ein erneuter Lockdown aussehen könnte, zeigt ein Blick zu den europäischen Nachbarn. Viele haben das öffentliche Leben wieder heruntergefahren. Bei uns sieht es dagegen so aus, als drohe sich das Land bei der Pandemiebekämpfung im föderalen Regelungswirrwarr zu verzetteln. Die Länder gehen vielfach unterschiedliche Wege.
Beherbergungsverbot
Dies ist aktuell der strittigste Punkt in der Bekämpfung der Pandemie. Die Regelung sieht vor, dass Reisende aus Corona-Hotspots innerhalb Deutschlands nur dann in Hotels und Gasthäusern übernachten dürfen, wenn sie einen höchstens 48 Stunden alten negativen CoronaTest vorlegen können. Die Runde bei Merkel hatte Mittwoch keine gemeinsame Linie gefunden und die Entscheidung auf Anfang November vertagt. Das Saarland und Sachsen haben dagegen Fakten geschaffen und das Beherbergungsverbot am Donnerstag aufgehoben. Es treffe Menschen, „die nichts mit der Krankheit zu tun haben“, und sei unverhältnismäßig, sagte Regierungschef Michael Kretschmer (CDU).
Am selben Tag fielen zudem in Baden-Württemberg und Niedersachsen Gerichtsentscheidungen, die das Beherbergungsverbot für unzulässig erklärten. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern liegen ebenfalls mehrere Eilanträge bei den zuständigen Oberverwaltungsgerichten. Trotzdem wollen sieben der 16 Bundesländer vorerst an der Regelung festhalten. Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) übte in seinem aktuellen Lagebericht indirekt Kritik am Beherbergungsverbot. Durch den zusätzlichen Testbedarf für Urlauber würden Laborkapazitäten gebunden.
Scharfe Kritik kommt aus Verbänden und Politik. Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, sagte unserer Redaktion: „Wir sollten auf wirkungsvolle Maßnahmen setzen, die wir über den Winter durchhalten können. Ein Beherbergungsverbot gehört nicht dazu.“Der Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) befürchtet derweil mehr Insolvenzen in der Branche. Der Schaden für die Hoteliers sei durch die Beherbergungsverbote immens, sagte die Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges unserer Redaktion. „Dass sich die Bundesländer nicht auf eine Aufhebung der Beherbergungsverbote einigen konnten, ist bitter.“Handwerkspräsident
Hans Peter Wollseifer mahnte, unüberschaubare Regeln trügen „schwerlich dazu bei, die so dringend notwendige Akzeptanz für die Sicherheitsmaßnahmen aufrechtzuerhalten“. GrünenFraktionschefin Katrin GöringEckardt sagte, mit dem Beherbergungsverbot bleibe „in einem zentralen Bereich ein Flickenteppich“. Dass diese Entscheidung bis nach den Herbstferien verschoben wurde, müsse „vielen Betroffenen wie ein schlechter Witz vorkommen“.
Beschränkung privater Treffen
Auch hier herrscht Uneinigkeit. Der Beschluss sieht vor, dass es in Regionen mit einem Wert über 35 Neuinfektionen eine Begrenzung von 25 Teilnehmern im öffentlichen und 15 Teilnehmern im privaten Raum geben soll. Ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen sollen private Feiern auf maximal zehn Teilnehmer im öffentlichen Raum sowie auf höchstens zehn Teilnehmer aus höchstens zwei Hausständen im privaten Raum begrenzt werden. Gleich fünf Ministerpräsidenten machten jedoch in Protokollnotizen klar, dass sie den Bürgern nicht vorschreiben wollen, wie sie in den eigenen vier Wänden feiern sollen. RheinlandPfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen wollen Beschränkungen der Teilnehmerzahl für Treffen in privaten Räumen nur „dringend empfehlen“. Sie schreckten vor Auflagen zurück „aufgrund des erheblichen Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung“. Niedersachsen meldete einen Prüfvorbehalt an. Diese fünf Länder haben zusammen rund 40 Millionen Einwohner – fast die Hälfte der Bevölkerung könnte also ausgenommen sein.
Sperrstunde
Eine Sperrstunde für die Gastronomie wird nun wohl zumindest nach und nach von den Landesregierungen in Angriff genommen. Dies gilt als Empfehlung bei 35 und verbindlich ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche. Bei der Uhrzeit, ab der eine Sperrstunde gelten soll, gibt es keine Festlegung. Unklar ist zudem, ob Ordnungsämter und Polizei derzeit überhaupt genügend Personal für Kontrollen aufbringen können.
Maskenpflicht
Geplant ist eine „ergänzende Maskenpflicht“in Städten und Regionen mit stark steigenden CoronaZahlen. Sie soll ab 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen auch dort gelten, wo Menschen dichter beziehungsweise länger zusammenkommen. Im Freistaat wurden die Regeln am Donnerstag zusätzlich verschärft: Ab 35 Neuansteckungen pro 100.00 Einwohner müssen Schüler ab der fünften Klasse im Unterricht sowie Studenten in der Vorlesung eine Maske tragen. Ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner gilt die Maskenpflicht auch in Grundschulen.
Risikogebiete abriegeln?
Zur Eindämmung der Pandemie schließt RKI-Präsident Lothar Wieler eine Abriegelung von Risikogebieten nicht mehr aus. „Vor neun Monaten habe ich in einem ähnlichen Interview gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann. Inzwischen kann ich mir vorstellen, dass solche Maßnahmen durchgeführt würden“, sagte Wieler dem Sender Phoenix. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dringt derweil auf schärfere Regeln für Einreisen aus Risikogebieten im Ausland. Das gehe aus einem entsprechenden Gesetzentwurf hervor, berichtete das Nachrichtenportal „ThePioneer“. Das Gesundheitsministerium solle ermächtigt werden, per Verordnung weitreichende Vorgaben für Reisende, Airlines, Bus- oder Bahn-Unternehmen zu erlassen.