Kurd Laßwitz und die Volksbildung
Zum 110. Todestag des Gothaer Gelehrten. Philosoph und Pädagoge für ein Maßhalten in allem Handeln
Wie sichert man eine Gesellschaft, die dem zersetzenden Egoismus einen Gemeinsinn entgegenstellen möchte? Diese aktuelle Frage bewegte bereits den Philosophen und Gothaer Pädagogen Kurd Laßwitz (1848-1910), dessen 110. Todestag sich am 17. Oktober jährt. In der Abhandlung „Aufgaben der Volksbildung“, die 1877 mehrteilig in der Wochenschrift „Schlesische Warte“erschien, überlegte er, wie man die bestehende Kluft zwischen Armen und Reichen, Ungebildeten und Gebildeten verkleinern könne.
Laßwitz war weder ein politischer Utopist noch ein Sozialist oder auch nur Sozialdemokrat, der sich die vollständige und endgültige Nivellierung dieser Unterschiede zum Ziel gesetzt hätte, sondern ein konservativer Denker, der an einer Versöhnung zwischen den drei Ständen (Arbeiter- und Bürgerschaft, Adel) arbeitete.
Ausgangspunkt von Laßwitz’ Überlegungen zur Volksbildung war der herrschende Materialismus, dessen naturwissenschaftliche Bedeutung für die Erklärung von Naturvorgängen er ohne Einschränkung anerkannte, vor dessen Übertragung auf soziale Verhältnisse er aber eindringlich warnte. Was dort zur Erklärung der Welt im Sinne eines Mechanismus des Wirkens atomarer Kräfte richtig sei, das entpuppe sich in der Gesellschaft als ein „ethischer Materialismus“, in dem jeder Einzelne nur seinen eigenen Interessen ohne Rücksicht auf Verluste folge.
Dem Materialismus den Idealismus entgegengesetzt
Laßwitz beschrieb dieses Phänomen als „atomistische Zersplitterung der Gesellschaft“oder als „Kolossomanie“, bei der jeder für sich selbst immer nur mehr fordere, ohne zu bedenken, dass die Wünsche zwar endlos, die Ressourcen aber endlich seien. Laßwitz setzte diesem schädlichen Materialismus den auf Aufklärung bedachten Idealismus entgegen, an dessen Spitze für ihn unverrückbar der große Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) stand.
In ethischer Hinsicht sei das Ziel des Idealismus die „Unterdrückung der individuellen Selbstsucht“beziehungsweise die „Selbstbezwingung“. Interessant ist in diesem Zusammenhang Laßwitz’ Auseinandersetzung mit einem egoistischen Freiheitsverständnis, das eine grenzenlose Freiheit für sich selbst verlangt, ohne zu erkennen, dass die echte Freiheit in einer Selbstbeschränkung besteht, nämlich „das zu wollen, was wir müssen“.
Kants kategorischer Imperativ, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, von der man wollen könne, dass sie ein allgemeines Gesetz werde, setzt der Wirklichkeit des
Egoismus jene Möglichkeit des Idealismus entgegen, in der die echte Freiheit als Freiheit des Anderen waltet.
Laßwitz distanzierte sich bei seinen Aussagen deutlich sowohl von einem hierarchisch gegründeten Christentum, das eine der „schlimmsten Zerstörerinnen des
Friedens und eine Feindin der Volksbildung“sei, als auch von einem Humanismus, der von einer überzogenen Rücksichtnahme den Einzelnen gegenüber unter Vernachlässigung des Gemeinsinns geprägt sei. Der bevorzugte Ort für die Disziplinierung aller war für ihn die Schule, in der er selbst seit 1876 als
Gymnasiallehrer am Ernestinum Gotha tätig war. In die Breite wirkte er mit seinen populärwissenschaftlichen Vorträgen aus den Bereichen Naturwissenschaft, Literatur und Philosophie in der „Mittwochsgesellschaft zu Gotha“, die er 1884 mitbegründet hatte. Als großes Vorbild galt ihm hier wie dort die griechische klassische Antike, die jenes Ideal einer Bildung realisiert habe, das dem „Barbarentum des Materialismus“die ästhetische, sittliche und wissenschaftliche Vervollkommnung entgegengestellt habe.
Das Gymnasium mit seinen klassischen Sprachen Griechisch und Latein war für Laßwitz daher der ideale Ort, um diese „edelste Humanität“zur (Selbst-)Ausbildung zu bringen. Naturwissenschaft und neuere Sprachen allein seien nicht geeignet, diese Ausbildung sicherzustellen.
Ein Programm für die wohlhabenden Gebildeten
Klingen all diese Diagnosen und Beschreibungen auch für uns Heutigen, die wir unter gänzlich anderen politisch-sozialen Bedingungen leben, durchaus nachvollziehbar und in gewisser Weise sogar modern, so gibt es doch mindestens zwei Punkte, wo wir die Dinge heute anders sehen. Hier wird der historische Abstand zu Laßwitz’ Überlegungen zur Volksbildung sichtbar, was nicht verwunderlich ist.
Zum einen wandte er sich mit seinem Programm ausschließlich an die Gebildeten, und insbesondere an die Reichen unter ihnen, von denen er sich erhoffte, dass sie sich aus eigener und freier Bestimmung selbst beschränken und den Gegensatz zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet, nicht ins Unermessliche wachsen lassen würden.
Vermutlich stimmen die meisten heute zu, dass sich diese Hoffnung überlebt hat und dass der Staat mit seiner Steuerpolitik zu Recht die Reicheren stärker belastet, auch wenn das vielen längst noch nicht weit genug geht. Auch erscheint die Ausrichtung nur an die oberen Stände aus heutiger Sicht undemokratisch, gilt es doch die Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger zu erreichen.
Stärker noch den Zeitumständen geschuldet ist Laßwitz’ Verteidigung der Prügelstrafe an den Schulen, die er für ein legitimes Mittel der erzieherischen Praxis hielt. Bedenkt man freilich, dass die Prügelstrafe per Gesetz in der DDR erst 1949 und in der BRD sogar erst 1973 verboten worden ist, so zeigt sich hier die lange Tradition einer Erziehung, die dem selbstbestimmten Individuum, das heute im Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen steht, je länger desto weniger gerecht werden konnte.
Laßwitz’ Maxime des Maßhaltens in allem Handeln kann jedoch uneingeschränkt als Prinzip einer Bildung für alle dienen. In dieser Hinsicht sollte sich der Idealismus auch heute noch gegen den herrschenden Materialismus bewähren.