Thüringer Allgemeine (Gotha)

Ampelsyste­m gilt auch nach den Herbstferi­en „Talk am Anger“:

Bildungsmi­nister Helmut Holter und GEW-Chefin Kathrin Vitzthum über Schule in Corona-Zeit

- Von Elena Rauch Das komplette Gespräch sendet Salve TV am Mittwoch, 21. Oktober, um 18.15 und 20.15 Uhr. Im Internet ist die Diskussion zu sehen auf www.thueringer­allgemeine.de und www.salve.tv

Erfurt. So viel Normalität wie möglich: Unter dieser Prämisse startete Ende August das Schuljahr im Zeichen von Corona. Inzwischen steigen die Fallzahlen. Was kommt, kann niemand vorhersehe­n.

Wie ist Schule darauf vorbereite­t, was hat sie aus den vergangene­n Monaten gelernt und welche Konsequenz­en sind auf lange Sicht nötig? Fragen, über die im aktuellen „Talk am Anger“von Thüringer Allgemeine und Salve TV diskutiert werden. Gäste im Studio: Die Vorsitzend­e der Bildungsge­werkschaft GEW in Thüringen, Kathrin Vitzthum und Thüringens Bildungsmi­nister Helmut Holter (Linke). Moderiert wird die Runde von TA-Chefredakt­eur Jan Hollitzer und KlausDiete­r Böhm von Salve TV.

Die Herbstferi­en verschaffe­n den Schulen zumindest eine Verschnauf­pause, wird sie auch für Vorbereitu­ngen auf alle möglichen Szenarien genutzt? Die erste Frage geht an den Minister, der mit Blick auf das Ampelsyste­m sagt: Wir sind vorbereite­t. An diesem System werde man festhalten.

Hessen stellt zehn Millionen Euro für Luftfilter in Aussicht – ob das auch für Thüringen eine Option ist, will Jan Hollitzer wissen. Der Bildungsmi­nister verweist auf die Empfehlung­en des Bundesumwe­ltamtes, Lüften im 20-Minuten-Takt bringe schon viel und Klassenzim­mer würden dadurch nicht zu Kältekamme­rn. Der Effekt von Luftfilter­n, sei noch unklar und am Ende müssten sie auch bezahlt werden.

Moderator Klaus-Dieter Böhm wirft die Option halbierter Klassen in die Runde. Wäre das nicht auch pädagogisc­h sinnvoll? Ohne Zweifel, bemerkt Kathrin Vitzthum, aber völlig illusorisc­h angesichts der Personalla­ge

in den Lehrerzimm­ern. Die Mischung aus Präsenz-und Distanzunt­erricht bedeute faktisch eine Verdopplun­g der Arbeitszei­ten für Lehrer, zumindest wenn man beim derzeitige­n Modell der 45-Minuten Unterricht­sstunde bleibt. Das hält offensicht­lich auch der Minister für diskutabel. Man müsse fragen, ob eine bestimmte Zahl von Stunden im Präsenzunt­erricht das Konzept der Zukunft sei, oder ob man mehr auf das selbststän­dige Lernen setzten sollte.

Das bringt die Runde schnell auf Fragen, die auch vor der Pandemie anstanden, aber nun drängender geworden sind: Lehrernach­wuchs, Digitalisi­erung, neue Lernkonzep­te. Minister Holter erinnert daran, dass jedes Jahr etwa 900 Pädagogen planmäßig in den Ruhestand gehen, bis 2030 müssten 8000 neue Lehrer eingestell­t werden, mindestens. Um mehr junge Menschen für den Beruf zu begeistern, brauche es mehr Wertschätz­ung und man müsse viel früher an potenziell­e Lehramtsst­udenten herantrete­n.

Die GEW-Chefin sieht das nicht anders. Das Klischee, Lehrer hätten vormittags recht und nachmittag­s frei zeige: Das Berufsbild in der Öffentlich­keit sei leider oft sehr schief, Korrekture­n von Arbeiten und Unterricht­svorbereit­ungen würden unterschät­zt. Tatsächlic­h kommen Lehrer auf eine Wochenarbe­itszeit von durchschni­ttlich 48 Stunden.

Für den großen Lehrermang­el in naturwisse­nschaftlic­hen Fächern machten die Diskutante­n noch eine spezifisch­e Ursache aus: das Studium. Wer zum Beispiel Chemielehr­er werden will, muss ein ChemieStud­ium stemmen, weil es kein eigenständ­iges Curriculum für Chemie-Lehrer an den Universitä­ten gibt. Das überforder­e viele und führe auch zu Studienabb­rüchen.

Eine weitere Großbauste­lle: Die Digitalisi­erung. Corona habe Druck gemacht, resümiert der Bildungsmi­nister, mittlerwei­le seien zum Beispiel inzwischen etwa 700 Schulen bei der Thüringer Schulcloud angemeldet, das sind etwa zwei Drittel der Schulen im Freistaat. Jetzt müsse man verstärkt über Inhalte diskutiere­n. Auch Kathrin Vitzthum sieht in der Schulcloud ein Instrument mit viel Potenzial, das auch Lehrer für den fachlichen Austausch nutzen können. Allerdings fällt ihr Urteil über die Realität nüchtern aus. 700 Schulen seien eine gute Zahl, doch auch wenn nie alle Schulen gleichzeit­ig auf dem Portal unterwegs sind, breche das System oft zusammen.

Zum Schluss noch ein Ausblick auf den Schulstart nach den Herbstferi­en. In keinem anderen Arbeitsber­eich, bemerkt Moderator Jan Hollitzer, sind so viele Menschen in einem Raum, ohne Schutzmask­en und ohne Sicherheit­sabstand. Wie sehen das mittlerwei­le die Lehrer? Die sind in erster Linie froh, dass Schule weitergeht, stellt Gewerkscha­fterin Vitzthum klar. Die Zahl der Lehrer, die wegen Risiken nicht vor einer Klasse stehen, sei sehr überschaub­ar, weil sie trotzdem unterricht­en. Aber sie wünschten sich Schutzmaßn­ahmen und es gebe auch Lehrer, die mit Angst zur Schule gehen. Auf der einen Seite werden die Schüler auf Sicherheit­sabstand und das Maskentrag­en eingeschwo­ren, aber ausgerechn­et in der Schule gelte das nicht. Für Kathrin Vitzthum ist dieser Widerspruc­h auch ein pädagogisc­hes Problem.

 ?? FOTO: MARCO SCHMIDT ?? Gruppenbil­d mit Abstand: GEW-Landeschef­in Kathrin Vitzthum und Bildungsmi­nister Helmut Holter (2. von rechts) stehen mit den Moderatore­n Jan Hollitzer (links) und Klaus Dieter Böhm (rechts) auf dem Erfurter Anger.
FOTO: MARCO SCHMIDT Gruppenbil­d mit Abstand: GEW-Landeschef­in Kathrin Vitzthum und Bildungsmi­nister Helmut Holter (2. von rechts) stehen mit den Moderatore­n Jan Hollitzer (links) und Klaus Dieter Böhm (rechts) auf dem Erfurter Anger.
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