Ampelsystem gilt auch nach den Herbstferien „Talk am Anger“:
Bildungsminister Helmut Holter und GEW-Chefin Kathrin Vitzthum über Schule in Corona-Zeit
Erfurt. So viel Normalität wie möglich: Unter dieser Prämisse startete Ende August das Schuljahr im Zeichen von Corona. Inzwischen steigen die Fallzahlen. Was kommt, kann niemand vorhersehen.
Wie ist Schule darauf vorbereitet, was hat sie aus den vergangenen Monaten gelernt und welche Konsequenzen sind auf lange Sicht nötig? Fragen, über die im aktuellen „Talk am Anger“von Thüringer Allgemeine und Salve TV diskutiert werden. Gäste im Studio: Die Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW in Thüringen, Kathrin Vitzthum und Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke). Moderiert wird die Runde von TA-Chefredakteur Jan Hollitzer und KlausDieter Böhm von Salve TV.
Die Herbstferien verschaffen den Schulen zumindest eine Verschnaufpause, wird sie auch für Vorbereitungen auf alle möglichen Szenarien genutzt? Die erste Frage geht an den Minister, der mit Blick auf das Ampelsystem sagt: Wir sind vorbereitet. An diesem System werde man festhalten.
Hessen stellt zehn Millionen Euro für Luftfilter in Aussicht – ob das auch für Thüringen eine Option ist, will Jan Hollitzer wissen. Der Bildungsminister verweist auf die Empfehlungen des Bundesumweltamtes, Lüften im 20-Minuten-Takt bringe schon viel und Klassenzimmer würden dadurch nicht zu Kältekammern. Der Effekt von Luftfiltern, sei noch unklar und am Ende müssten sie auch bezahlt werden.
Moderator Klaus-Dieter Böhm wirft die Option halbierter Klassen in die Runde. Wäre das nicht auch pädagogisch sinnvoll? Ohne Zweifel, bemerkt Kathrin Vitzthum, aber völlig illusorisch angesichts der Personallage
in den Lehrerzimmern. Die Mischung aus Präsenz-und Distanzunterricht bedeute faktisch eine Verdopplung der Arbeitszeiten für Lehrer, zumindest wenn man beim derzeitigen Modell der 45-Minuten Unterrichtsstunde bleibt. Das hält offensichtlich auch der Minister für diskutabel. Man müsse fragen, ob eine bestimmte Zahl von Stunden im Präsenzunterricht das Konzept der Zukunft sei, oder ob man mehr auf das selbstständige Lernen setzten sollte.
Das bringt die Runde schnell auf Fragen, die auch vor der Pandemie anstanden, aber nun drängender geworden sind: Lehrernachwuchs, Digitalisierung, neue Lernkonzepte. Minister Holter erinnert daran, dass jedes Jahr etwa 900 Pädagogen planmäßig in den Ruhestand gehen, bis 2030 müssten 8000 neue Lehrer eingestellt werden, mindestens. Um mehr junge Menschen für den Beruf zu begeistern, brauche es mehr Wertschätzung und man müsse viel früher an potenzielle Lehramtsstudenten herantreten.
Die GEW-Chefin sieht das nicht anders. Das Klischee, Lehrer hätten vormittags recht und nachmittags frei zeige: Das Berufsbild in der Öffentlichkeit sei leider oft sehr schief, Korrekturen von Arbeiten und Unterrichtsvorbereitungen würden unterschätzt. Tatsächlich kommen Lehrer auf eine Wochenarbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden.
Für den großen Lehrermangel in naturwissenschaftlichen Fächern machten die Diskutanten noch eine spezifische Ursache aus: das Studium. Wer zum Beispiel Chemielehrer werden will, muss ein ChemieStudium stemmen, weil es kein eigenständiges Curriculum für Chemie-Lehrer an den Universitäten gibt. Das überfordere viele und führe auch zu Studienabbrüchen.
Eine weitere Großbaustelle: Die Digitalisierung. Corona habe Druck gemacht, resümiert der Bildungsminister, mittlerweile seien zum Beispiel inzwischen etwa 700 Schulen bei der Thüringer Schulcloud angemeldet, das sind etwa zwei Drittel der Schulen im Freistaat. Jetzt müsse man verstärkt über Inhalte diskutieren. Auch Kathrin Vitzthum sieht in der Schulcloud ein Instrument mit viel Potenzial, das auch Lehrer für den fachlichen Austausch nutzen können. Allerdings fällt ihr Urteil über die Realität nüchtern aus. 700 Schulen seien eine gute Zahl, doch auch wenn nie alle Schulen gleichzeitig auf dem Portal unterwegs sind, breche das System oft zusammen.
Zum Schluss noch ein Ausblick auf den Schulstart nach den Herbstferien. In keinem anderen Arbeitsbereich, bemerkt Moderator Jan Hollitzer, sind so viele Menschen in einem Raum, ohne Schutzmasken und ohne Sicherheitsabstand. Wie sehen das mittlerweile die Lehrer? Die sind in erster Linie froh, dass Schule weitergeht, stellt Gewerkschafterin Vitzthum klar. Die Zahl der Lehrer, die wegen Risiken nicht vor einer Klasse stehen, sei sehr überschaubar, weil sie trotzdem unterrichten. Aber sie wünschten sich Schutzmaßnahmen und es gebe auch Lehrer, die mit Angst zur Schule gehen. Auf der einen Seite werden die Schüler auf Sicherheitsabstand und das Maskentragen eingeschworen, aber ausgerechnet in der Schule gelte das nicht. Für Kathrin Vitzthum ist dieser Widerspruch auch ein pädagogisches Problem.