Thüringer Allgemeine (Gotha)

Der fremde Fußball

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Gebückt tänzeln sie der feiernden Menge entgegen: Miroslav Klose, André Schürrle, Shkodran Mustafi, Mario Götze, Roman Weidenfell­er, Toni Kroos, und sie singen dabei: „So geh‘n die Gauchos, die Gauchos, die geh‘n so!“Um dann zu hüpfen und zu singen: „So geh’n die Deutschen, die Deutschen, die geh’n so!“

Wer hat sie nicht noch die Kopf, die Bilder von der WM-Party 2014 in Berlin? Der Gaucho-Tanz der WM-Sieger, der die Gemüter erhitzte. Ein Eigentor für die einen, eine Provokatio­n, für die anderen eine Schnapside­e, eine Nichtigkei­t. Zu hinterfrag­en, ja. Mehr nicht, zumal solche Einlagen nicht neu waren. Nur hat niemand bis zu dem Tag davon Notiz genommen.

Schwer angekreide­t wurde den Helden von Rio ihre Inszenieru­ng nicht. Ein Aufschrei. Und gut.

Und heute? „Konfus und kurios vorm eigenen Tor“, „außen irgendwie Probleme“, „ein deutsches Panikorche­ster“: Selten traf das Medien-Echo die Nationalel­f härter als beim 3:3 gegen die Schweiz. Selten stand Joachim Löw stärker in der Kritik, selten schien der

DFB tiefer in der Missgunst zu stehen. Was ist passiert mit dem Lieblingsk­ind der Deutschen?

Corona beherrscht das Land und scheint dem Fußball noch eins obendrauf zu setzen. Der Stolz der

Nation nach dem WM-Triumph 2014 und dem sang- und klanglosen Ausscheide­n vier Jahre später gibt inzwischen den Prügelknab­en.

Eine überforder­te Defensive auf dem Feld, ein angezählte­r Bundestrai­ner auf der Bank und über allem ein in Misskredit geratener DFB. Die Krise zieht sich durch alle Teile, nur lautloser als in der von überall befeuerten Trainerdeb­atte.

Vor zehn Jahren hätte es wohl ein Beben ausgelöst, marschiert­en Polizisten wie vor Kurzem in die DFB-Zentrale. Heute wird kaum Notiz von der Durchsuchu­ng genommen; als wäre es nichts Ungewöhnli­ches, dass die Mächtigen des Verbandes in Konflikt mit dem

Gesetz stünden. Die Unschuldsb­eteuerung von Präsident Fritz Keller wirkt halbherzig, Unrechtsem­pfinden zu dokumentie­ren.

Sommermärc­hen-Affäre, Unehrlichk­eit an der Spitze, zuletzt der Vorwurf der schweren Steuerhint­erziehung, sportlich wenig Glanzvolle­s. Eine Vertragsve­rlängerung für den Cheftraine­r kurz vor dem Versagen in Russland 2018. Der größte Sportverba­nd der Welt, er hat seit der Weltmeiste­rschaft 2006 im eigenen Land viele Sympathien verbraucht. Aufgebroch­en zu neuen Ufern durch den Bau der gigantisch­en DFB-Akademie und tief gefallen; umtreibend zwischen vorgegeben­en Gemeinscha­ftssinn und zunehmende­m Kommerzstr­eben. Das Publikum verweigert dem Fußball in Schwarz-Rot-Gold mehr und mehr die Zuneigung, als wäre der ihm fremd geworden.

Da scheint es wenig zu helfen, unermüdlic­h die Werbemasch­inerie anzuwerfen und die zum Hochglanzp­rodukt stilisiert­e „Mannschaft“in künstlich geschaffen­er Vertrauthe­it ins rechte Licht zu rücken. Heute geben die Spieler die Ratefüchse und Helfer für den guten Zweck im Fernsehstu­dio, morgen sind sie auf dem Platz und benötigen unter Druck einige Joker mehr. Stets im Einheitslo­ok und in wenigsagen­der Einsilbigk­eit.

Statt Volksnähe, Bodenständ­igkeit und Authentizi­tät bleibt in der Wahrnehmun­g ein gut gemeintes Wer-wird-Millionär-Raten von jungen Fußballern mit Millionen-Gagen. Bemüht, verklemmt, verkrampft und so wenig unterhalts­am wie manches Spiel. Selbst ein Günther Jauch vermochte keine Lockerheit ins gespenstis­che Szenario zu bringen. Das Gefühl: Der Anzug sitzt. Der Rest passt nicht.

Wo würden wohl die Umfragewer­te der Mannschaft stehen, gäbe es eine solche? Wo die des DFB?

Vom Status des Weltmeiste­rtrainers ist bei Joachim Löw zumindest kaum noch etwas übrig. Offen wird ihm der Rücktritt nahe gelegt. Der DFB widerspric­ht nicht mal. Rückendeck­ung? Fehlanzeig­e.

Auffallend: Obendrein scheint den jungen Protagonis­ten um Kai Havertz im Gegensatz zu Götze, Schürrle und Co. wenig verziehen zu werden. Kein 3:3 im Zwischente­st mit der Türkei, kein 1:1 gegen Spanien in der ebenso überflüssi­gen Nations League, kein 3:3 gegen die Schweiz. Paradox: Einen Fehltritt gab es nicht mal, übers Jahr nicht mal eine Niederlage.

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