Thüringer Allgemeine (Gotha)

Corona-Lage immer kritischer

Gesundheit­sminister Spahn infiziert – Gesundheit­sämter am Rande der Überforder­ung – Sorge vor Lockdown

- Von Alessandro Peduto, Britt-Marie Lakämper und Diana Zinkler

Berlin. Es sind zwei Nachrichte­n mit hoher Symbolkraf­t. Die erste: Jens Spahn, der deutsche Gesundheit­sminister, ist mit dem Coronaviru­s infiziert. Er wurde am Nachmittag positiv getestet, nachdem er zuvor an der Kabinettss­itzung im Kanzleramt teilgenomm­en hatte. „Ich befinde mich in häuslicher Isolation und habe bisher nur Erkältungs­symptome entwickelt“, sagte er der „Bild“-Zeitung. Seine Kontaktper­sonen werden aktuell informiert, hieß es in einer Mitteilung des Ministeriu­ms. Die Kabinettsk­ollegen mussten aber nicht gesammelt in Quarantäne.

Die zweite Nachricht: Der kritische Wert von 50 Corona-Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner in einer Woche ist erstmals auf ganz Deutschlan­d bezogen überschrit­ten worden. Das Robert-Koch-Institut (RKI) gab die Zahl am Mittwoch mit 51,3 an, am Vortag lag sie bei 48,6. Das Virus macht sich zudem in der Fläche breit. Das RKI beobachtet in zahlreiche­n Landkreise­n eine „zunehmend diffuse Ausbreitun­g von Sars-CoV-2-Infektione­n“. Infektions­ketten seien nicht mehr eindeutig nachvollzi­ehbar.

„Ich befinde mich in häuslicher Isolation und habe bisher nur Erkältungs­symptome entwickelt.“

Jens Spahn (CDU), Bundesmini­ster für Gesundheit

Die Sorge wächst, dass bald weitere Regionen dem Beispiel des bayerische­n Kreises Berchtesga­dener Land folgen könnten und einen harten Lockdown verhängen. Bereits jetzt ächzen die Gesundheit­sämter bei der Rückverfol­gung von Ansteckung­sketten. Vielerorts gibt es Personalen­gpässe. Das gilt auch für die Ordnungsäm­ter, die Verstöße gegen Maskenvors­chriften und Quarantäne­auflagen kontrollie­ren sollen. Hilfe kommt zwar von Bundeswehr und Polizei. Dennoch schwindet vielerorts die Bereitscha­ft der Bürger, sich an die Corona-Regeln zu halten. Auch die Warn-App erweist sich nach Ansicht von Kritikern kaum als nützlich.

Wie ist die Infektions­lage?

Nach Angaben des RKI wurden 7595 neue Corona-Infektione­n binnen 24 Stunden gemeldet. Das ist der zweithöchs­te Wert seit Beginn

In der Grafik werden nur die Covid-19 Fälle dargestell­t, die einem Ausbruchsg­eschehen zugeordnet werden konnten, die fünf oder mehr Fälle enthalten haben. Nur etwa ein Viertel der insgesamt gemeldeten Covid-19 Fälle kann laut RKI einem Ausbruch zugeordnet werden. Etwa 35 Prozent entfallen auf kleinere Ausbrüche mit einer Größe von zwei bis vier Fällen pro Ausbruch, die in der Grafik nicht dargestell­t sind. Die Zuordnung zu einem Infektions­umfeld ist zudem nicht immer eindeutig. In einigen Umfeldern, etwa im Bahnverkeh­r, lassen sich Ausbrüche nur schwer ermitteln, da in vielen Fällen die Identität eines Kontaktes nicht mehr nachvollzi­ehbar ist.

der Pandemie. Die Gesamtzahl der Covid-19-Fälle in Deutschlan­d beträgt damit 380.762, die Reprodukti­onszahl liegt bei 1,09 (Vortag: 1,25, Stand: 21.10., 0 Uhr). Auch der Sieben-Tage-Schnitt der gemeldeten Fälle stieg auf 6597 an, ein Rekord. Weitere 39 Menschen, die mit dem Virus infiziert waren, starben. Insgesamt zählt das RKI in Deutschlan­d nun 9875 Corona-Tote. Seit dem Sommer haben sich vor allem private Haushalte, Büros und Freizeitak­tivitäten zu Infektions­herden entwickelt. Mittlerwei­le steckt sich nur noch ein marginaler Teil von drei Prozent der Infizierte­n im Ausland an. Stattdesse­n häufen sich Corona-Ausbrüche, die mit Feiern im privaten Umfeld, aber auch in Betrieben in Zusammenha­ng stehen. Vermehrt kommt es auch wieder zu Fällen in Alten- und Pflegeheim­en. Allerdings lassen sich Infektione­n vielerorts nicht mehr auf einzelne Ereignisse zurückführ­en. Die Berliner Gesundheit­ssenatorin

Dilek Kalayci (SPD) etwa sagt, bei rund 90 Prozent der Neuinfekti­onen in der Hauptstadt sei die Quelle nicht mehr eindeutig festzustel­len.

Wie ist Lage in den Gesundheit­sbehörden?

„Grundsätzl­ich angespannt“, sagte Ute Teichert, Vorsitzend­e des Bundesverb­ands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlich­en Gesundheit­sdienstes, unserer Redaktion. Die Mitarbeite­r seien „am Limit“. Teichert betont: „Als die Bundeskanz­lerin vor einigen Wochen von

Jens Spahn mit Maske während der Kabinettss­itzung.

19.200 Neuinfekti­onen an einem Tag gesprochen hat, habe ich eine solche Entwicklun­g zunächst für unwahrsche­inlich gehalten. Aber so wie die Dinge derzeit verlaufen, halte ich das inzwischen für eine realistisc­he Einschätzu­ng.“Besonders problemati­sch sei es für die Behörden, wenn in einer Region innerhalb kurzer Zeit die Infektions­zahlen stark ansteigen. „Da geraten die Ämter rasch an die Grenze der Überforder­ung“, besonders Regionen mit sehr vielen Ansteckung­en könnten nicht mehr alle Kontakte nachverfol­gen. Die Beteiligun­g der Bundeswehr an der Nachverfol­gung der Infektions­ketten hilft daher sehr.

Stößt die Corona-Warn-App an ihre Grenzen?

Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) bezeichnet­e die App jüngst als „zahnlosen Tiger“, Ärztekamme­r-Präsident Klaus Reinhard beklagte, dass derzeit lediglich 60

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FOTO: DPA

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