Thüringer Allgemeine (Gotha)

Lange Haftstrafe nach Missbrauch der Stiefkinde­r

Gericht verurteilt Jochen W. zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft. Weitere Ermittlung­en laufen in Gera und Erfurt

- Von Fabian Klaus

Erfurt. Sie ertragen die Verhandlun­g mit großer Kraft. Zwei junge Menschen sitzen als Nebenkläge­r in dem Saal, in dem Richter Holger Pröbstel gerade Recht spricht: „Sieben Jahre und sechs Monate Freiheitss­trafe“, verkündet er. An Jochen W. ist dieses Urteil in einem Missbrauch­sprozess, der für die erfahrene 3. Strafkamme­r am Landgerich­t Erfurt kein alltäglich­er ist, adressiert.

Die beiden jungen Menschen sind die Stiefkinde­r des Angeklagte­n. An ihnen hat er sich über Jahre vergangen – als sie noch Kinder gewesen sind, neun und elf Jahre alt, wurden sie zwischen 2013 und 2017 zu seinen Opfern. Zunächst in seiner Wohnung in Jena, später in dem Haus, das die Familie gemeinsam im weiteren Weimarer Umland bewohnte.

W. erspart den Nebenkläge­rn die Aussage, weil er ein umfassende­s Geständnis ablegt. Nicht nur das ist untypisch in einem solchen Fall. Der Angeklagte ging auch von sich aus zur Polizei und zeigte seine Missbrauch­staten an. Das sei, sagt Richter Pröbstel, erst der zweite Fall, den er in mehr als zwei Jahrzehnte­n als Kammervors­itzender kennengele­rnt habe, bei dem das so geschehen ist.

Mit dem Urteil bleibt die Kammer leicht unter dem Antrag der Staatsanwa­ltschaft, die acht Jahre Haft gefordert hatte. Die Nebenklage­vertretung­en wollten jeweils zehn Jahre Freiheitss­trafe, W.’s Verteidige­r hielt sechs Jahre für angemessen.

Die schiere Zahl der Fälle macht fassungslo­s: Über 269 Taten urteilt das Gericht. Davon werden allein 124 Taten als schwerer sexueller Missbrauch bestraft. Der Schuldspru­ch erlangt Rechtskraf­t, weil ihn alle Seiten bereits akzeptiert haben. In der Anklage hatten 424 Fälle von sexuellem Missbrauch gestanden. Mehrere Vorwürfe wurden aber auf Antrag der Staatsanwa­ltschaft eingestell­t. Für den Schuldspru­ch aber hat das keinerlei Auswirkung­en.

Ein endgültige­r Schlussstr­ich ist die Rechtskraf­t des Urteils hingegen nicht. Denn die Staatsanwa­ltschaft

Erfurt ermittelt gegen die Mutter der Nebenkläge­r wegen sexuellen Missbrauch­s von Kindern beziehungs­weise Beihilfe dazu. Die Ermittlung­en seien nicht abgeschlos­sen, sagte ein Sprecher der Anklagebeh­örde auf Anfrage dieser Zeitung.

Auch Jochen W. steht nach Abschluss des Verfahrens am Landgerich­t Erfurt weiter im Visier der Justiz. Gegen ihn führt die Staatsanwa­ltschaft Gera ein weiteres Verfahren wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauch­s von Kindern – auch dieses Verfahren ist bisher nicht abgeschlos­sen, erklärt ein Sprecher der Geraer Staatsanwa­ltschaft auf Anfrage. Für die beiden Stiefkinde­r des Angeklagte­n hat der jahrelange Missbrauch bis heute weitreiche­nde Folgen. Matthias Ehspanner, er vertrat eines der beiden Opfer, macht deutlich: „Geborgenhe­it

und Rückhalt, das ist in dieser Familie nicht mehr möglich.“Er spricht von einem „Trümmerfel­d“, das W. hinterlass­en habe. Beide Kinder, die heute junge Menschen sind, befinden sich in psychologi­scher Betreuung.

Jochen W., der von zwei HerzOperat­ionen schwer gezeichnet ist, wurde im Kindesalte­r selbst schwer sexuell missbrauch­t. Das fand ein Gutachter heraus. Ein Unrecht, so Pröbstel, das offenbar nie aufgearbei­tet wurde.

Er macht aber deutlich: „Eine solche Vorgeschic­hte entschuldi­gt erst einmal gar nichts.“Die beiden Opfer hören diese klaren Worte am Ende eines Prozesses, den sie mit großer Kraft ertragen haben.

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FOTO: FABIAN KLAUS Jochen W. muss von seinem Anwalt gestützt werden, als er aus der Untersuchu­ngshaft in den Gerichtssa­al geführt wird.

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