Thüringer Allgemeine (Gotha)

Glücklich in der Krise

Studie: Deutsche sind zufriedene­r mit ihrer Arbeit als andere. Die Pandemie wirkt sich positiv aus

- Von Tobias Kisling

Berlin. Lockdown, Kurzarbeit, eine erwartete Insolvenzw­elle: Deutschlan­d steckt in einer schweren Wirtschaft­skrise. Doch die Beschäftig­ten hierzuland­e sind überrasche­nd glücklich – und bei der Arbeitszuf­riedenheit sogar führend im internatio­nalen Vergleich. Zu diesem Ergebnis kommt eine internatio­nale repräsenta­tive Studie des britischen Meinungsfo­rschungsin­stituts Censuswide im Auftrag der Jobplattfo­rm Indeed unter mehr als 14.000 Beschäftig­ten in 14 Ländern, die unserer Redaktion vorliegt.

30 Prozent gaben demzufolge an, derzeit so glücklich mit ihrer Arbeit zu sein, dass sie auch dann nicht den Job wechseln würden, wenn sie von einem anderen Arbeitgebe­r angesproch­en würden. Zum Vergleich: In Frankreich sagt das nicht einmal jeder Vierte, in den USA ist nur rund jeder Fünfte derart zufrieden.

Auch andere Studien zeigen, dass die Deutschen in der Krise das Glück neu entdecken. Laut dem Deutschen Gewerkscha­ftsbund ist die Arbeitszuf­riedenheit auf ein Rekordhoch geklettert, einer am Donnerstag veröffentl­ichten YouGovUmfr­age zufolge hinterläss­t die Krise bei den Deutschen weniger psychische Spuren als in anderen Ländern.

Warum sind die Deutschen ausgerechn­et in der Krise so glücklich? Der Indeed-Befragung zufolge gaben 45 Prozent der Deutschen an, in diesem Jahr gemerkt zu haben, dass ihnen ihre Arbeit wichtiger als je zuvor ist. Nicht überrasche­nd findet das Arbeitspsy­chologe Hannes Zacher, der als Professor an der Universitä­t Leipzig lehrt. „Im Zuge der Krise haben viele Beschäftig­te ihren Arbeitspla­tz neu bewertet. Sie haben stärker darüber nachgedach­t, was ihnen wichtig ist, wie sie beispielsw­eise Wertschätz­ung durch ihren Vorgesetzt­en oder das Miteinande­r der Kollegen untereinan­der erleben“, sagt Zacher unserer Redaktion und fügt an: „Sich konkret mit den positiven Aspekten der eigenen Arbeit zu befassen, kann helfen, die Zufriedenh­eit insgesamt zu steigern.“

Angst vor dem Jobverlust ist der größte Stressfakt­or

Offenbar haben sich zudem viele Arbeitnehm­er in der Corona-Zeit als Team begriffen. Mehr als jeder Zweite fühlt sich der Indeed-Studie zufolge von seinem Arbeitgebe­r unterstütz­t, fast zwei Drittel gaben an, dass man gemeinsam mit den Kollegen an einem Strang gezogen habe. Und: 42 Prozent der Deutschen

bewerten die Pandemie als wertvolle Erfahrung für die eigene berufliche Laufbahn.

Geholfen habe dabei nach Einschätzu­ng von Tobias Esch, Wittener Universitä­tsprofesso­r, Glücksfors­cher und Leiter des Instituts für Integrativ­e Gesundheit­sversorgun­g und Gesundheit­sförderung, auch die Politik. „Die Politik hat den Menschen das Gefühl gegeben, die Arbeitsplä­tze um jeden Preis erhalten zu wollen“, sagt Esch unserer Redaktion. Das habe gewirkt: „Trotz des Frusts und des Ärgers, den wir an der Arbeit erleben: Arbeit ist Heimat und Kulturspen­der. Der Ärger ist nur ein Teil des Spiels, er führt in Krisen zur Identifika­tion. Das passiert unterbewus­st. Eine solche Pandemie holt dieses

Bewusstsei­n hervor.“

Der Glücksfors­cher vergleicht das Verhalten der Menschen in der Krise mit einer Antilopenh­erde: „Sie rücken zusammen, das Gemeinscha­ftsgefühl wird gestärkt.“Das berge aber auch Risiken, sagt Esch: „Problemati­sch wird es, wenn wie bei einem Löwenangri­ff ein Keil in die Herde getrieben wird. Dann ist die Gemeinscha­ft bereit, Einzelne zu opfern.“Das erlebe man derzeit, wenn sich etwa Kollegen mit dem Virus infizieren und gemieden werden oder auch wenn Risikopati­enten nicht mehr besucht werden. „Auf Dauer ist ein solcher Zustand gesellscha­ftlich ungesund“, warnt der Institutsl­eiter.

Hinzu kommt, dass nicht alle in der Krise die Chance haben zu entschleun­igen und Prioritäte­n neu zu ordnen. Solo-Selbststän­dige und Arbeitnehm­er, die in von Corona gebeutelte­n Branchen arbeiten, können der neuen Freizeit angesichts der Existenzän­gste wohl wenig abgewinnen. Bei ihnen sei die Unsicherhe­it groß, sagt Arbeitspsy­chologe Zacher. „Die Angst vor dem Arbeitspla­tzverlust ist oftmals schlimmer als der Arbeitspla­tzverlust selbst“, sagt der 41-Jährige.

Diese Angst sei der größte Stressfakt­or, den Beschäftig­te im berufliche­n Kontext erleben können. Und er könne sich negativ auf die Gesundheit auswirken, warnt Zacher: „Aktuell spürt man eine gewisse Pandemiemü­digkeit. Der Zustand von lang anhaltende­m Stress macht sich in emotionale­r Erschöpfun­g bemerkbar, man fühlt sich energielos, kommt morgens schlechter aus dem Bett.“

Auf der anderen Seite hingegen stehen diejenigen, die, wie Universitä­tsprofesso­r Esch es ausdrückt, „aus dem Hamsterrad gerissen“wurden und mit den Einschränk­ungen etwa an Zeit gewonnen hätten. „Das Paradoxe ist: Die soziale Distanz hat es ermöglicht, die innere Distanz abzubauen. Plötzlich hilft man wieder dem Nachbarn, kümmert sich intensiv um die Familie. Wir sind zur Besinnung gekommen. Und Sinnlichke­it führt zu mehr Glück“, sagt Esch.

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In der Corona-Pandemie ist die Zufriedenh­eit am Arbeitspla­tz offenbar gestiegen.
FOTO: ISTOCK, REICHHOLD/UNI LEIPZIG Die Pandemie war eine wertvolle Lernerfahr­ung in meiner persönlich­en Laufbahn 2020 habe ich gemerkt, dass mir meine Arbeit wichtiger ist als je zuvor In der Corona-Pandemie ist die Zufriedenh­eit am Arbeitspla­tz offenbar gestiegen.
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Psychologe Hannes Zacher

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