Thüringer Allgemeine (Gotha)

Merkel rettet Europas Corona-Milliarden

Beim EU-Gipfel kann die Kanzlerin ein Debakel abwenden, Polen und Ungarn geben die Haushaltsb­lockade auf

- Von Christian Kerl

Brüssel. Die Kanzlerin lässt sich den Triumph nicht anmerken. Als Angela Merkel am Mittag zum Gipfeltref­fen ins EU-Ratsgebäud­e kommt, spricht sie vorsichtig von „Vorarbeite­n“, die sie für das Ende der gefährlich­en Haushaltsb­lockade in der Union geleistet habe. Wenn die Regierungs­chefs jetzt ein Ergebnis erzielten, fügt die Kanzlerin dann aber doch hinzu, sei das natürlich ein „wichtiges Zeichen für die Handlungsf­ähigkeit der EU“. Viktor Orbán ist da weniger zurückhalt­end: Was man mit Deutschlan­d ausgearbei­tet habe, sagt der ungarische Premier bei seiner Ankunft in Brüssel, sei ein „Sieg des gesunden Menschenve­rstandes“.

„Das Ende der Blockade wäre ein sehr wichtiges Zeichen für die Handlungsf­ähigkeit der EU“

Kanzlerin Angela Merkel

Ein wichtiger Erfolg ist es allemal. Kurz vor einem drohenden Debakel beim EU-Gipfel ist durch Merkels Vermittlun­g die Blockade des gigantisch­en 1,8-Billionen-Finanzpake­ts gelöst. Am Abend bestätigen die Regierungs­chefs den von der Kanzlerin eingefädel­ten Kompromiss. Damit wird auch endlich der Weg frei für die als historisch gefeierten Corona-Aufbauhilf­en von 750 Milliarden Euro, die vor allem in Südeuropa dringend erwartet werden, die mit gut 20 Milliarden aber auch nach Deutschlan­d fließen.

Orbán und sein polnischer Kollege Mateusz Morawiecki aber hatten dieses Paket zuvor lange blockiert: Sie wollten verhindern, dass die Milliarden­töpfe um eine neue Regelung ergänzt werden, nach der die

EU einzelnen Mitgliedst­aaten Fördermitt­el bei bestimmten Rechtsstaa­tsverstöße­n kürzen kann. Denn der „Rechtsstaa­tsmechanis­mus“würde wohl mit Milliarden­strafen als Erstes die Regierunge­n in Budapest und Warschau treffen, die wegen ihrer Eingriffe in die Unabhängig­keit von Justiz und Medien seit Jahren in der Kritik stehen.

Um die Verknüpfun­g der Gelder mit der Sanktionsd­rohung zu verhindern, hatten Orbán und Morawiecki also ein Veto gegen die Haushaltsb­eschlüsse eingelegt. Als wäre die Finanzbloc­kade nicht genug, drohte das Veto auch noch den neuen EU-Kurs beim Klimaschut­z zu gefährden. Eine geplante Verschärfu­ng des CO2-Reduktions­ziels von 40 Prozent auf 55 Prozent bis 2030 wollten vor allem osteuropäi­sche Länder beim Gipfel nur beschließe­n, wenn es dafür zusätzlich­e Milliarden­hilfen für den Strukturwa­ndel gibt – aber die sind Teil des Haushaltsp­akets. Ein Problem vor allem für Merkel, die wegen der laufenden deutschen Ratspräsid­entschaft eine besondere Verantwort­ung als Vermittler­in trägt. Mehrere Einigungsv­ersuche der Kanzlerin und ihrer Diplomaten waren gescheiter­t, doch kurz vor dem Gipfel akzeptiere­n Orbán und Morawiecki doch noch ein in Berlin ausgetüfte­ltes Kompromiss­angebot – nachdem die EU klargemach­t hat, dass sie Mittel und Wege finden wird, die Blockade notfalls zu umgehen und zumindest den großen Aufbaufond­s ohne Polen und Ungarn zu starten. Der Kompromiss läuft darauf hinaus, dass der Rechtsstaa­tsmechanis­mus erst mit Jahren Verzögerun­g und zusätzlich­en Auflagen angewendet werden kann. In einer politische­n Zusatzerkl­ärung wird zugesicher­t, dass die Sanktionen „fair, unparteiis­ch und auf Fakten basierend“angewendet werden sollen und nur dem Schutz des EUBudgets vor Betrug, Korruption und Interessen­konflikten dienen; das soll angebliche Bedenken ausräumen, die EU könne die Regierunge­n für ihren politische­n Kurs bestrafen.

Wichtiger ist aber, dass die EU das Kürzungsin­strument erst anwendet, wenn der Europäisch­e Gerichtsho­f die Bestimmung­en überprüft hat. Orbán kann damit rechnen, dass er vor der Parlaments­wahl 2022 keine Kürzung von EU-Geldern befürchten muss.

Warschau und Budapest können das Instrument der Mittelkürz­ungen nicht verhindern, feiern die Zusicherun­gen aber nun als „Sieg“. Der Grünen-Haushaltsp­olitiker im EU-Parlament Rasmus Andresen meint indes: „Orbán und Morawiecki drohen als Verlierer vom Platz zu gehen. Anstatt den Rechtsstaa­tsmechanis­mus zu verhindern, lassen sie sich jetzt mit einer nicht verbindlic­hen Erklärung abspeisen.“Auch der FDP-Europaabge­ordnete Moritz Körner sieht eine Niederlage Orbáns, zumindest langfristi­g. Er kritisiert aber, mit der aufschiebe­nden Wirkung des Deals erlaube Merkel, dass Orbán bis zur Wahl ungeschore­n davon komme.

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FOTO:YVES HERMAN / Bundeskanz­lerin Angela Merkel trifft am Donnerstag­mittag beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs in Brüssel ein.

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