Woran denken Sie, wenn Sie an einen Flur denken?
Für mich ist es immer zuerst der Eingangsbereich in der Altbauwohnung von S., den ich seit bestimmt 20 Jahren kenne. Ich weiß, wie hoch die Decke ist (oder jedenfalls: wie hoch sie sich anfühlt), wo die Winkel sind, an welchen Platz man die Schuhe stellt, wo die Schirme hängen, wo einmal ein Katzenkratzbaum stand, als die Katze noch lebte. Wann immer ich an einen Flur denke, denke ich erstmal an diesen.
Es sind solche Hausflure, die wir im Kopf für immer weiter mit uns herumtragen, die Sofas und Betten, Figürchen auf Anrichten, die Schulwege, die Schwimmbadkabinen, der eine Ausblick von einem
Balkon, jener Dachboden, diese Kellertreppe. Das sind Erinnerungen, die sich in unsere Weltwahrnehmung einschreiben: Ich höre das Wort Baum und denke zuerst an diesen einen, weit verzweigten, besonders kletterfähigen, den Sie auch schon gekreuzt haben, wenn sie vom Gothaer Bahnhof aus dem Park betreten haben.
Unsere Prägung, unsere kindlichen Erfahrungswelten, sind der Unterbau für unser Vorstellungsvermögen. Die Grundkonstruktion für unsere Erfindungen und für unsere Lebensentwürfe ist das schon erlebte. Von diesen Erinnerungen und Prägungen kann man sich manchmal distanzieren, und verblasst sicherlich mit der Zeit. Denn dieser Kreislauf aus Erleben-erinnern-erzählen setzt sich über die Kindheit hinaus weiter fort; aber doch sind die ersten Kulissen sicherlich die prägendsten. Wie der Boden geklebt hat in der Turnhalle, wie es vor dem Dönerpizza-pasta-laden roch, wie die raue Sofadecke der Urgroßmutter sich auf der Wange angefühlt hat.
Solche Erinnerungen sind die Holzrahmen, auf welche die Leinwände gespannt werden, auf denen dann wiederum Stück für Stück die Bilder zu Erzählungen entstehen. Und dann schreiben sich diese Bilder nicht nur ins Lesen, sondern auch ins Denken ein, bei mir ins Schreiben und bei Ihnen vielleicht: ins Vorstellen vom eigenen Leben und von Ihrem Selbst.
Wann immer ich ein Buch zur Hand nehme und von einem Flur in einer Altbauwohnung lese, wird es dieser Flur von S. sein. Er ist der Flur in meinem Kopf, und erst, wenn er erzählerisch modelliert wird, wenn er in einem Roman auf einmal lang und schmal sein muss und ohne Katzenkratzbaum, dann passt sich meine Imagination den Vorgaben an.
Langsam verschieben sich die Dinge in meinem Kopf, die Wände verrücken, es entsteht etwas. Und auch, wenn wir alle gerade vielleicht an einen Flur denken, deneiniges ken wir doch nicht an den gleichen. Und diese Flur-diversität, die aus unseren mannigfaltigen Erfahrungen gespeist ist und unserem individuellen Erleben, so unterschiedlich wir privilegiert, diskriminiert, geprägt werden, ist etwas, das wir manchmal vergessen.
Dabei finde ich nichts schöner, als die Privatheit unserer Erinnerungsflure und die große Palette unserer Vorstellungswelten, die das Lesen, Erinnern und Erleben so spezifisch, und den Austausch über unsere Unterschiede so erfüllend machen können.
Miku Sophie Kühmel aus Berlin ist die 14. Kurd-laßwitz-stipendiatin.
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