Thüringer Allgemeine (Gotha)

Der Zauber der Zehn

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Es muss im Spätsommer 1981 gewesen sein. Herr Berls, der freundlich­e Jugendtrai­ner, steht plötzlich vor der Tür und übergibt feierlich Hose, Stutzen und Trikot. Alles in Rot. Alles ein bisschen groß. Und versehen mit der „3“. Das erste „richtige“Spiel kann also kommen.

Knapp drei Jahre später: Die ersten Wunden sind geleckt, die ersten Siege bejubelt. Der Fußball dominiert die Tage; die EM auch die Abende. Die Schwarz-weiß-kiste läuft; Zettel und Stift liegen bereit. Keine Minute wird verpasst, jedes Ergebnis notiert, jeder Torschütze, jede Auswechslu­ng. Und wenn der Ball einmal nicht rollt, spielen wir draußen auf dem autofreien Parkplatz die Partien nach.

Trotz Rummenigge, Völler, Littbarski & Co. dürfen die anderen gern die Deutschen sein. Denn die enttäusche­n durchweg. Der Titelverte­idiger rumpelt in jenen Junitagen 1984 derart unbeholfen über die französisc­hen Plätze, als wäre das Spielgerät sein ärgster Feind. 0:0 gegen Portugal, 0:1 gegen Spanien und 2:1 gegen Rumänien – trauriges Aus in der Vorrunde.

So schlecht, so gut. Endlich darf man ungeniert schwärmen von jener Mannschaft, die praktisch die gesamte Fußballwel­t verzückt. Frankreich besitzt nicht nur die schönste aller Nationalhy­mnen,

Filigraner Franzose: Michel Platini zirkelt einen Freistoß um die gegnerisch­e Mauer. Mit neun Toren führt er sein Team zum Em-titel.

sondern beeindruck­t damals auch mit einer mitreißend­en Spielweise. Giresse, Tigana, Fernandez, Bellone.

Eine Formation wie ein Chanson. Sie tanzen über den Rasen, lassen den Ball zirkuliere­n und schließen die Angriffe zielsicher ab. Gegenüber diesem später als Champagner-fußball bezeichnet­en Offensivst­il wirken die deutschen Auftritte wie schales Bier.

Über allem aber steht einer, der das Endrunden-turnier dominiert wie bislang kein anderer Spieler in der Em-geschichte: Platini. Der Regisseur mit der wehenden Mähne; der Künstler mit dem feinen Gefühl im rechten Fuß. Er ist in der Form seines Lebens, treibt seine Mitspieler permanent an und erzielt allein neun (!) der 14 französisc­hen Treffer. In lediglich fünf Spielen. Unglaublic­h. Die Grande Nation liegt ihm nach dem Titelgewin­n zu Füßen. Völlig zu Recht.

Platini manifestie­rt den Mythos der „10“. Die Trikotnumm­er steht bis heute wie keine andere für Kreativitä­t und das Besondere im Spiel. Jeder will sie, nur einer bekommt sie. Puskas, Pelé und Overath tragen sie; Maradona natürlich, Baggio, Messi – und eben Platini, der auf den eigenen, längst vergilbten Em-zetteln als Einziger in Großbuchst­aben verewigt ist.

Und Herr Berls? Der aufmerksam­e Trainer mit dem großen Herzen teilt in jenem Sommer einen neuen Trikotsatz aus – und macht damit einen seiner zehnjährig­en Schützling­e besonders glücklich.

Der darf sich fortan fühlen wie Platini. Zumindest ein bisschen.

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