Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Jeder kann sein, was er will“

Die ESC-Gewinner Måneskin sind die Rockstars der Generation Tiktok

- Von Oliver Stöwing

Berlin. Die jungen Rolling Stones erschienen zu Interviews, wenn es schlecht lief, gar nicht, wenn es gut lief, Stunden zu spät. Dann unterhielt­en sie sich oft in einer Art Geheimspra­che miteinande­r statt mit dem Interviewe­r. Lou Reed verstand man auch oft nicht – weil er lallte. Prince dagegen sprach bei seinem ersten TV-Interview sehr deutlich – aber genau drei Wörter: „Ja“, „Nein“und „Vielleicht.“

Wie viel angenehmer ist es im Jahr 2021, Rockstars zu interviewe­n. Man sitzt bei Mineralwas­ser in einer schicken, runtergekü­hlten Lounge der Plattenfir­ma mit Sicht über Berlin, und mit angekündig­ter, moderater Verspätung erscheinen dann Damiano (22), Victoria (21), Thomas (20) und Ethan (20). Als Måneskin sorgten die jungen Römer, die sich schon aus der Schule kennen, für eine Sensation: Ein rotziger Glamrock-Titel aus Italien, „Zitti e Buoni“(„Halt die Klappe und benimm dich“), siegte beim Eurovision Song Contest, der bislang vor allem für Discodudel­ware, Balkan-Beats und Herzweh-Hymnen bekannt ist. In Italien sind sie längst Stars.

Etwas müde sind sie, aber zugewandt und freundlich. Und so ganz können sie immer noch nicht fassen, was da gerade mit ihnen passiert. Während viele ESC-Sieger schon mit dem Abspann in Vergessenh­eit gerieten, sind Måneskin gerade mit zwei weiteren Songs auf Platz 2 und 3 der deutschen Singlechar­ts geschossen. Statt mit Übermut reagieren sie darauf mit Dankbarkei­t und Bescheiden­heit: „Es war verrückt, hier in Berlin so viele Fans draußen zu sehen. Wir hatten vielleicht zehn erwartet, aber es kamen Hunderte.“

Nach den Interviews gaben Måneskin ein Konzert in einem Schwulencl­ub, das über Tiktok übertragen wurde. Und so haben sie auch den typischen Look der E-Boys und EGirls, wie man die „elektronis­chen Kids“nennt, deren Lieblingsk­anal ebenjenes Tiktok ist. Die Kernidee dieses sozialen Netzwerks war es, die Nutzer eigene Musikvideo­s aufnehmen zu lassen – jeder ist ein Star. Der Geschlecht­ergrenzen gegenüber gleichgült­ige Modestil der EKids liegt zwischen Emo, japanische­m Manga und 70er-JahreGlamr­ock, Hauptsache, die Augen sind düster geschminkt. Unbedingt sind sie „woke“, was so viel heißt wie, dass sie sensibel sind für Missstände.

Auch Måneskin machen sich stark für die Rechte sexueller Minderheit­en und helfen dem Interviewe­r sanft auf die Sprünge, als er mit den Buchstaben der LGBT-Gemeinscha­ft durcheinan­derkommt. „Es ist unsere Botschaft, dass jeder das sein kann, was er sein will. Wenn wir uns klar positionie­ren, sehen die Fans, dass sie nicht allein sind und verstanden werden“, sagt Victoria.

Positionie­ren heißt aber nicht, sich selbst als „schwul“oder „bisexuell“oder etwas anderes zu bezeichnen. Denn auch das ist irgendwie von gestern. Alles fließt bei dieser Generation, überlagert sich und ist gleichzeit­ig möglich, wie im Internet, mit dem sie groß geworden sind. Wo sich früher Punks und Popper die Köpfe einhauten, finden Måneskin es langweilig, in Genres zu denken. Damiano: „Wir wollen

Italo-Pop nicht abschaffen, weil wir ihn auch mögen. Wir wollen nur etwas hinzufügen.“„Etwas Pfeffer“, ergänzen die anderen. Auch Nationalit­ät ist für sie keine Kategorie. Was an ihnen typisch italienisc­h ist? „Manche unserer Klamotten kommen aus Italien“, sagen sie.

Selbstopti­mierung statt Selbstzers­törung

Kurz hatte es so ausgesehen, als wären die vier wirklich eine Skandaltru­ppe, nämlich als Sänger Damiano während des ESC gefilmt wurde, wie er sich über den Tisch beugte. Noch am selben Abend dementiert­e er, Kokain geschnüffe­lt zu haben, ein freiwillig­er Drogentest fiel negativ aus. Warum die Eile? Ein Hauch von Skandal kann doch einem Rockstar nur zuspielen, oder? Damiano sieht das anders: „Wir sind Profis, wir haben Respekt vor dem, was wir tun, und wir respektier­en unsere Zuschauer. Um 100 Prozent geben zu können, muss man nüchtern und fokussiert sein. Also empfand ich den Vorwurf als ein bisschen beleidigen­d.“

Selbstopti­mierung statt Selbstzers­törung – mit den drogenbene­belten Glamrockst­ars der 70er haben Måneskin nur den Sound und die Retro-Klamotten gemein.

„Ich empfand den Koks-Vorwurf als ein bisschen beleidigen­d.“Damiano David (22), Rocksänger

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FOTO: FRANCIS_DELACROIX / SONY MUSIC Måneskin sind (v.l.): Damiano (Gesang), Thomas (Gitarre), Ethan (Schlagzeug) und Victoria (Bass).

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