Es wird ausgewechselt
Selten wurden bei einer Bundestagswahl in Thüringen so viele neue Abgeordnete gewählt – und alte abgewählt
Erfurt. Die Frau, die demnächst eine von 735 Abgeordneten des Deutschen Bundestages sein wird, klingt gefasst am Telefon, sehr klar. Ja, sagt Tina Rudolph, „das wäre das Tüpfelchen auf dem I gewesen“. Ein knappes Prozent der Wählerstimmen mehr – und die Ärztin aus Jena hätte in Westthüringen nicht nur den Wahlkreisabgeordneten und CDU-Landesvorsitzenden Christian Hirte besiegt, sondern hätte auch das Direktmandat gewonnen.
Doch am Ende ging der Wahlkreis 190, der den Wartburgkreis samt Eisenach sowie den UnstrutHainich-Kreis umfasst, an den AfDKandidaten Klaus Stöber, einen Steuerberater, der in Ruhla dem Tennisclub vorsteht. „Das hat mich sehr geschockt, so wie das gesamte Ergebnis der AfD in Thüringen“, sagt Tina Rudolph.
Aber immerhin, für sie gibt es ja noch die Parteiliste. Weil der SPD, die drei Wahlkreise gewann, dank ihres guten Zweitstimmen-Ergebnisses fünf Mandate zustehen, ziehen neben dem Abgeordneten Carsten Schneider (Erfurt-Weimar), dem einstigen Olympioniken Frank Ullrich (Südthüringen) und Holger Becker (Jena-Sömmerda und Weimarer Land) noch zwei Frauen über die Liste ein: Elisabeth Kaiser aus Gera, die bereits seit 2017 im Bundestag sitzt – und Tina Rudolph.
Mit 30 Jahren geht sie, die Ärztin und SPD-Stadträtin aus Jena, nun in den Bundestag. Am liebsten, sagt sie, hätte sie einen Sitz im Gesundheitsausschuss. Ihre Ziele: ein „stabiles, krisenfestes Gesundheitssystem“, „gute Versorgungsstrukturen auf dem Land“und eine Reform der Krankenhausfinanzierung.
Alles andere werde sich finden: Mitarbeiter, die Büros im Wahlkreis, ein Zimmer in Berlin. Am liebsten, sagt sie, würde sie eine Wohngemeinschaft mit anderen jungen Abgeordneten gründen.
Aber, wer weiß: Es werden ja auch einige Wohnungen in der Hauptstadt frei. Gleich mehrere Thüringer CDU-Abgeordnete verloren spektakulär ihr Mandat, darunter Tankred Schipanski, Volkmar Vogel oder Albert Weiler.
So wie bei jeder Wahl liegen Willkommen und Abschied ebenso nah beieinander wie Sieg und Niederlage. Doch selten gab es derart viel Veränderung wie jetzt. Etwa jeder dritte der 19 Thüringer Bundestagsmitglieder fängt neu an. Das liegt vor allem an der CDU: Ihre Landesgruppe schrumpft von acht auf drei Abgeordnete zusammen. Neben Manfred Grund, der als einziger Unionist seinen Wahlkreis gewann, schaffen es nur Hirte und Antje Tillmann aus Erfurt über die Liste ins Berliner Parlament.
Der frühere Fraktions- und Landeschef Mike Mohring, der bei der Nominierung den Abgeordneten Johannes Selle im Wahlkreis um Jena verdrängte und dann viel Geld in seine Kampagne steckte, scheiterte gegen den Sozialdemokraten Becker. Derweil hatte der frühere Bundesverfassungsschutzchef HansGeorg Maaßen, der sich von Südthüringen aus an die Spitze des rechten Flügels der Union setzen wollte, gegen den Neusozialdemokraten Ullrich keine Chance.
Besonders knapp wurde es für die Linke. Nur weil drei Abgeordnete, darunter der alte Gregor Gysi in Berlin, ihren Wahlkreis gewannen, bleibt die Partei trotz knapp unterschrittener Fünf-Prozent-Hürde im Bundestag. Und nur weil die Linke in Thüringen nicht ganz so abstürzte wie anderswo, schaffte es die InNorden nenexpertin Martina Renner neben Susanne Hennig-Wellsow und Ralph Lenkert gerade noch so wieder ins Parlament. „Sehr erleichtert“sei sie, sagt Renner am Montag ins Telefon. Gleichzeitig müsse jetzt vieles anders werden in der Linken, das Ergebnis sei „hart“zu analysieren. Einen Rücktritt von HennigWellsow vom Bundesparteivorsitz hält Renner aber für ausgeschlossen. „Wir haben gemeinsam verloren“, sagt sie.
Als Gewinner darf sich hingegen Stephan Brandner fühlen. Nicht nur, dass der AfD-Spitzenkandidat in Ostthüringen – neben Stöber, Michael Kaufmann (Südostthüringen) und Marcus Bühl (Ilmkreis-Gotha) – eines der vier AfD-Direktmandate im Land gewann: Die Thüringer AfD ist der einzige Landesverband der Partei, der bei der Bundestagswahl nochmals zulegen konnte. Ansonsten gab es überall Verluste, die sich bundesweit auf 2,3 Prozentpunkte summierten.
Für Brandner ist das gute Ergebnis eine Bestätigung des radikalen Kurses, zumal auch die sächsische
AfD viele Direktmandate gewann. „Wir haben ja in der Partei viele, die klug daherreden“, sagt er. „Wir hingegen im Osten haben einfach mal gemacht.“Ein Viertel der künftigen Fraktion sei in Ostdeutschland gewählt worden. „Das muss sich auch im Vorstand abbilden“, sagt er. Er jedenfalls werde kandidieren.
Wechsel gibt es übrigens dennoch einige in der Thüringer AfD-Landesgruppe. Die Abgeordneten Anton Friesen und Robby Schlund waren bei der Nominierung verdrängt worden. Nur Jürgen Pohl, der im
gegen Manfred Grund verlor, zieht über die Liste ein.
Für echte Kontinuität sorgen nur die kleinen Landesparteien. Die FDP bleibt mit ihren Listenabgeordneten Gerald Ullrich und Reginald Hanke im Bundestag. Und für die Grünen verharrt das siebte Mal seit 1998 Katrin Göring-Eckardt in Berlin. Auch diesmal klappte es wieder nicht mit einem zweiten Mandat. Damit reiht sich Heiko Knopf aus Jena in die lange Reihe jener Männer ein, die hinter der ewigen Abgeordneten scheiterten.