Thüringer Allgemeine (Gotha)

Wen machen sie zum Kanzler?

FDP und Grüne wollen zunächst zu zweit in kleiner Runde über ein Regierungs­bündnis reden

- Von Julia Emmrich und Theresa Martus

Berlin. Kurz nach 18 Uhr am Wahlabend telefonier­t FDP-Chef Christian Lindner mit drei möglichen Regierungs­partnern: mit CDU-Chef Armin Laschet, mit SPD-Wahlsieger Olaf Scholz und mit GrünenChef Robert Habeck. Wenige Stunden später passiert etwas, das neu ist in der Geschichte der Bundesrepu­blik: Die beiden kleinen Parteien wollen Gespräche zur Regierungs­bildung starten. FDP und Grüne werden erst miteinande­r reden, bevor sie mit der möglichen Kanzlerpar­tei verhandeln. „Mit dem Wahlabend bricht tatsächlic­h eine neue Zeitrechnu­ng in Deutschlan­d an“, sagt Habeck. Der 52-Jährige dürfte die neue Nummer eins der Grünen werden, viel spricht dafür, dass die Partei ihn als Vizekanzle­r in der nächsten Regierung sieht.

„Mit dem Wahlabend bricht eine neue Zeitrechnu­ng in Deutschlan­d an.“Robert Habeck,

Sie nennen es nicht Sondierung, sondern Vor-Sondierung: Ein kleines Format soll es sein, von liberaler Seite kommen nur Lindner und sein Generalsek­retär Volker Wissing. Grünen-Fraktionsv­ize Anton Hofreiter bestätigt, dass beide Parteien nun erst mal im „sehr kleinen Kreis“sprechen würden. Beide müssten schauen, was es an Gemeinsamk­eiten gebe und was für jede Seite notwendig sei. Erst nach diesen Gesprächen wollen die Liberalen Einladunge­n der Großen überhaupt annehmen.

Die Strategie der FDP

Christian Lindner hat eine klare Präferenz: Sein Ziel heißt Jamaika. Ein Ampelbündn­is schließt der FDP-Chef nicht aus, doch hinter seinem Vorstoß für Gespräche mit den Grünen, um das Fundament eines Dreierbünd­nisses zu legen, steht klar der Wunsch nach einer Koalition mit der Union. Das Modell ist die gut funktionie­rende JamaikaKoa­lition in Schleswig-Holstein, das Modell ist weniger die (ebenfalls gut funktionie­rende) Ampelkoali­tion in Rheinland-Pfalz.

Auch deshalb ist in den liberalen Planspiele­n Grünen-Parteichef Robert Habeck der zentrale Adressat aufseiten der Grünen, nicht CoChefin Annalena Baerbock. Dabei spielen nicht nur politische, sondern auch persönlich­e Gründe eine Rolle. „Wir kommen mit Habeck besser klar“, hört man am Wahlabend aus der FDP-Spitze. Keine Frage, es gibt belastbare Bande: Habeck und FDP-Vize Wolfgang Kubicki haben die Kieler Jamaika-Koalition ausgehande­lt. Die gelb-grünen Bündnisges­präche sollen jedoch nicht nur den Macht- und Gestaltung­sanspruch der beiden kleineren Koalitions­partner zeigen. Sie sollen auch ganz praktisch den Weg in ein Bündnis ebnen: Konflikte auflisten, Kompromiss­e ausloten. Das wird nicht leicht. „Wer SchwarzGrü­n

machen wollte, für den ist auch Jamaika machbar“, glauben sie bei der FDP.

Für Lindner sind die Zweiergesp­räche vor allem aber auch ein Versuch, die Fehler von 2017 nicht zu wiederhole­n: Vom ersten JamaikaVer­such ist das Gefühl geblieben, über den Tisch gezogen zu werden, sich in personell übersteuer­ten Verhandlun­gsrunden bis zur Erschöpfun­g verkämpft und zu wenige direkte Drähte zu den Grünen gepflegt zu haben. Lindner will diesmal die Fäden in der Hand halten, seine Leute haben längst enge Kontakte geknüpft.

Die Strategie der Grünen

Auch bei den Grünen sind die Erinnerung­en an 2017 frisch – und nicht besonders gut. Die Indiskreti­onen, die Sticheleie­n, die viel zu großen Runden, all das soll es dieses Mal nicht mehr geben.

Die Grünen-Parteispit­ze schweigt sich deshalb am Montag aus über die mögliche Zusammense­tzung eines Sondierung­steams: „Wir führen die Verhandlun­gen gemeinsam“, sagt Habeck dazu nur und meint sich und Baerbock.

Ähnlich wie die FDP haben auch die Grünen eine Präferenz, welche Dreierkons­tellation es werden soll: Die SPD war der erklärte WunschKoal­itionspart­ner im Wahlkampf, die Schnittmen­gen sind größer als zur Union. Unnötig einengen lassen will man sich von der programmat­ischen Nähe aber nicht, die Grünen betonen am Montag, dass in den kommenden Tagen Gespräche mit allen Parteien geführt würden, die für eine Regierung infrage kommen. Auch mit der Union – obwohl diese im Moment dabei sei, „sich aus der Regierungs­fähigkeit zu verabschie­den“, wie Habeck es formuliert. Der grünen Verhandlun­gsposition gegenüber SPD und Union schadet es jedenfalls nicht, wenn Scholz und Laschet wissen, dass sie nicht die einzigen möglichen Partner sind.

Voraussetz­ung für all das ist eine gemeinsame Basis mit den Liberalen, und diese will man jetzt ausloten. „Es macht Sinn, dass die miteinande­r reden, die denkbar weit auseinande­r sind“, erklärt Habeck. Fast wortgleich war das auch von Christian Lindner zu hören.

Inhaltlich gibt es durchaus Punkte, bei denen sich FDP und Grüne nahe sind. Doch mindestens genauso lang ist die Liste der Differenze­n zwischen den beiden.

Immerhin, ein paar Überschnei­dungen sind bereits ausgemacht: Sie und Lindner seien etwa gleich alt, witzelte Baerbock am Montag, Habeck und Lindner seien beide Männer, „und wahrschein­lich essen wir alle drei gerne Eis“.

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FOTO: NDR/WOLFGANG BORRS Robert Habeck und Christian Lindner (r.), hier vor drei Jahren bei „Anne Will“, könnten bald zusammen am Kabinettst­isch sitzen.

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