Thüringer Allgemeine (Gotha)

Wie Scholz die FDP in eine Koalition lotsen will

Der SPD fehlen für ein Bündnis der „Fortschrit­tsparteien“noch die Partner – die Grünen und Liberalen

- Von Miguel Sanches

Nach seinem Wahlsieg will Olaf Scholz zügig mit Grünen und FDP reden. Sondieren, verhandeln, koalieren. Mit einer Regierungs­bildung bis Weihnachte­n. „Natürlich gibt es Kontakte“, verriet der SPDSpitzen­kandidat am Montag. „Das werden wir in aller Ruhe und Klarheit vorantreib­en.“

Reihenfolg­e, Realisieru­ngschancen, Format und Zeitplan der Gespräche blieben ebenso unkonkret wie der Teilnehmer­kreis. Scholz hat kein Ass im Ärmel. Der SPD-Politiker lässt sich von einfachen Überlegung­en leiten.

Pragmatism­us und Führungsku­nst Erstens: SPD, Grüne und FDP haben Stimmen gewonnen – Union, AfD und Linke verloren. Niemand könne an dem Votum der Wählerinne­n und Wähler „ohne Schaden vorbeigehe­n“.

Zweitens: Für eine sozial-ökologisch-liberale Koalition müssten die Partner nicht bei null anfangen. Scholz erinnerte vor der Presse daran, dass seine Partei mit der FDP zwischen 1969 und 1982 „sehr erfolgreic­h“regiert habe – und mit den Grünen zwischen 1998 und 2005. „Wenn drei Parteien, die den Fortschrit­t am Beginn der 20er-Jahre im Blick haben, zusammenar­beiten, kann das etwas Gutes werden, selbst wenn sie dafür unterschie­dliche Ausgangsla­gen haben.“

Nach Ansicht von Scholz sind Pragmatism­us und Führungsku­nst gefragt. Zum Pragmatism­us gehört, keine roten Linien zu ziehen; nicht zu sagen, was nicht geht. Scholz lieferte bloß Überschrif­ten: mehr Respekt, industriel­le Modernisie­rung, den von Menschen gemachten Klimawande­l aufhalten. Zur Führungsku­nst gehört, jeden Anschein von Überheblic­hkeit zu vermeiden: keine Koch-Kellner-Attitüde, stattdesse­n das Verspreche­n von Augenhöhe. „Völlig okay“sei, dass Grüne und FDP sich untereinan­der abstimmen wollten; auch weil eine Regierung

auf Vertrauen aufbauen muss. Das muss man unabhängig von einem Koalitions­vertrag sehen und schon die Aufgaben mit bedenken, „die man am Anfang gar nicht erkennen kann“. Was er damit sagen will: Man kann wochenlang verhandeln und jedes Detail festlegen – und dann kommt eine Bankenkris­e oder eine Pandemie. Da hilft nur, dass Partner einander vertrauen. „Ich möchte eine Regierung bilden, die auf Vertrauen beruht.“

Von seinen Anhängern erwartet Scholz, dass sie vom Wahlkampfm­odus auf Kooperatio­n umschalten und genauso wie er auf einen Erfolg der „Fortschrit­tsparteien“fokussiert sind. „Keiner will schuld sein, wenn wir das Momentum verlieren“, beschreibt einer aus der Führung die Stimmung in den Gremien.

Auf die Union ging der Wahlsieger von sich aus weder im Präsidium noch im Vorstand oder vor der Presse ein; ganz so, als sei für ihn klar, dass die Geschlosse­nheit am Wahlabend nicht von Dauer sein würde. Im Verlauf der Sitzung haben sich Führungsmi­tglieder gegenseiti­g Meldungen aus der Union auf ihren Handys gezeigt, aus denen hervorging, dass Spitzenkan­didat Armin Laschet in den CDU-Gremien massiv in der Kritik stand. Vor Journalist­en bemerkte Scholz, einige von ihnen seien bei der Union „embedded“. Der Begriff stammt von den US-Militärs aus dem ersten IrakKrieg und bedeutet, dass Kriegsberi­chterstatt­er einer kämpfenden Einheit zugewiesen werden – eine ironische Anspielung darauf, dass die Medien in der eigentlich internen Auseinande­rsetzung in der Union keine Zaungäste waren.

Nach dem Aufwachen hatte Scholz am Morgen am Handy mit Genugtuung festgestel­lt, dass sich über Nacht nichts verändert hatte. Er war immer noch Wahlsieger. „Und ich hab mich dann noch mal gefreut“, erzählte er. Von Euphorie war bei ihm ansonsten wenig zu spüren – umso mehr von einem in- formellen Machtzuwac­hs.

Scholz ist zwar formal immer noch Finanzmini­ster, Vizekanzle­r und Spitzenkan­didat, aber über Nacht hat er eine Macht dazuge- wonnen, die in keinem Statut gere- gelt wird: Alle richten sich schon nach ihm. Er wird gefragt, wer SPD- Vorsitzend­er – er will es nicht – wer- den soll und ob Rolf Mützenich Fraktionsc­hef bleiben soll. Darf er. „Wir sind uns einig, dass der jetzige Fraktionsv­orsitzende ein ganz tol- ler Mann ist“, sagte Scholz. Mehrere Auslandsko­rresponden­ten richteten Fragen an ihn, auch um sein Englisch zu testen. Scholz hat über die Schulden der EU geredet, über den Brexit, den Ukraine-Konflikt, die Gas-Pipeline Nordstream 2 und das Verhältnis zu Russland. Im Grunde wurden ihm bereits Kanzlerfra­gen gestellt.

„Ich möchte eine Regierung bilden, die auf Vertrauen beruht.“Olaf Scholz,

Das Gesetz der Serie in Pinneberg Dabei ist er längst nicht im Amt. Die FDP hat eine Präferenz für Laschet. Bei den Grünen schauen viele Genossen argwöhnisc­h auf Parteichef Robert Habeck. Das Verhältnis zwi- schen beiden Parteien ist geprägt von Sympathie – und Konkurrenz- denken. Habeck ist jemand, dem Sozialdemo­kraten zutrauen, die SPD in die Schranken weisen zu wollen. Und so bleibt Scholz nur das Prinzip Hoffnung und das Ge- setz der Serie in Pinneberg.

Das ist der norddeutsc­he Wahl- kreis, der seit 68 Jahren immer von einem Bewerber geholt wird, des- sen Partei auch die Kanzlerin oder den Kanzler stellt. Am Sonntag ge- wann hier Ralf Stegner.

Ein Sozialdemo­krat.

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