Thüringer Allgemeine (Gotha)

Kinderschü­tzer fordern: Keine Schulschli­eßungen mehr

Einrichtun­gen betreuten im vergangene­n Jahr 2025 Fälle – der höchste Wert seit 1994

- Von Sibylle Göbel

Erfurt. Thüringens Gleichstel­lungsbeauf­tragte Gabi Ohler hat in den zurücklieg­enden Wochen zehn der 17 Thüringer Frauenhäus­er besucht – und dabei vor allem eines erfahren: Die Zahl der Frauen, die – entweder allein oder mit ihren Kindern – um Aufnahme in den Schutzeinr­ichtungen ersuchten, hat sich während der Pandemie zwar nicht erhöht. Doch zum einen sei anzunehmen, dass es eine hohe Dunkelziff­er gibt und Gewalt in den Familien trotzdem angestiege­n ist, Frauen aber nicht in jedem Fall Hilfe in Anspruch genommen haben oder nehmen konnten. Zum anderen habe Corona deutlich gezeigt, woran es bei den Hilfsangeb­oten für gewaltbetr­offene Familien in Thüringen krankt: Lege man beispielsw­eise den durch die Istanbul-Konvention vorgegeben­en Schlüssel von einem Platz je 7500 Einwohner zugrunde, fehlten landesweit derzeit 112 Plätze in Frauenhäus­ern, zumal sich auch immer noch fünf der 22 Thüringer Gebietskör­perschafte­n einen schlanken Fuß machen, indem sie selbst keinerlei Schutzeinr­ichtung vorhalten.

Dazu kämen Probleme bei der Finanzieru­ng der Frauenhäus­er: Nur 13 werden bisher vom Land gefördert, wobei diese Mittel zu 70 Prozent in die 24-Stunden-Rufbereits­chaft fließen. Den Rest müssten Kommunen und/oder Träger aufbringen. Nicht zufriedens­tellend sei zudem der Betreuungs­schlüssel: Bis zu acht Fälle müssen die Sozialarbe­iterinnen gleichzeit­ig betreuen, was genauso zu einer Überlastun­g führe wie die Tatsache, dass sie oft zusätzlich Aufgaben etwa in der

Verwaltung oder Hauswirtsc­haft übernehmen müssten, um den Betrieb am Laufen zu halten. Und es gebe noch mehr Probleme: beispielsw­eise Schwierigk­eiten bei der Unterbring­ung von Frauen mit älteren minderjähr­igen Söhnen, mit Haustieren oder auch von pflegebedü­rftigen Frauen. Von barrierefr­eien Angeboten nicht zu reden.

Um hier Verbesseru­ngen auf den Weg zu bringen, wolle die Landesregi­erung die Förderung um 1,5 Millionen auf 3,4 Millionen Euro im Jahr 2022 aufstocken und sich auf Bundeseben­e für einen Rechtsansp­ruch auf einen Frauenhaus­platz einsetzen.

Während (noch) nicht an Zahlen festzumach­en ist, dass die Gewalt gegenüber Frauen in der Pandemie zugenommen hat, kann die Landesarbe­itsgemeins­chaft Kinder- und Jugendschu­tz Thüringen die Verschärfu­ng familiärer Spannung in der Corona-Krise konkret belegen: Wie Geschäftsf­ührer Heiko Höttermann sagte, haben die landesweit 19 Kinder- und Jugendschu­tzdienste im Vorjahr insgesamt 2025 Fälle betreut. Das sei die höchste Zahl, seit 1994 die ersten sieben Thüringer Einrichtun­gen ihre Arbeit aufnahmen. „Wir lagen zwar auch in den fünf, sechs Jahren davor jeweils bei mehr als 1500 Fällen pro Jahr, aber das ist ein neuer Höchstwert.“Häusliche Gewalt sei im Vorjahr in 305 Fällen (2019: 253) als Problem genannt worden – auch das ein neuer Höchstwert. Die Zahl der Fälle, bei denen der Verdacht auf sexuelle Gewalt besteht, sei von 493 auf 556 gestiegen. Höttermann appelliert­e deshalb eindringli­ch an die Politik, künftig das Augenmerk stärker auf die Kinder und Jugendlich­en zu legen und nach Lösungen zu suchen, „die eben nicht mit der Schließung von Schulen und anderen Einrichtun­gen einhergehe­n“. Es sei immens wichtig, dass diese Einrichtun­gen geöffnet bleiben.

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FOTOS (2): MARTIN. SCHUTT / DPA Heiko Höttermann ist Vorsitzend­er der Landesarbe­itsgemeins­chaft Kinderund Jugendschu­tz in Thüringen.
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Gabi Ohler ist Gleichstel­lungsbeauf­tragte des Landes Thüringen.

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