Routinierte Bestürzung
Wie extrem ist der Freistaat? In Jena wird eine Bilanz des Thüringen-Monitors gezogen
Erfurt/Jena. Es war der späte Abend des 20. April 2000, als die Synagoge in Erfurt angegriffen wurde. Neonazis warfen einen Brandsatz auf das Gebäude – und verfehlten ein Fenster zur Wohnung des Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde nur knapp.
Das Feuer war rasch gelöscht – doch die Betroffenheit blieb. Die Tat wurde zur politischen Zäsur. In der allein von der CDU geführten Landesregierung, in der die immer aggressiver auftretenden Rechtsradikalen bis dahin vor allem als lästiges Imageproblem betrachtet worden war, begann ein vorsichtiges Umdenken.
Ministerpräsident Bernhard Vogel beauftragte die Universität Jena mit einer umfragebasierten Studie: dem Thüringen-Monitor. Am politikwissenschaftlichen Institut sollte untersucht werden, wie stark rechtsextremistische Einstellungen in der Bevölkerung verwurzelt sind und was die Thüringer von der Demokratie halten.
Das Ergebnis sorgte wieder für Bestürzung. Fast ein Drittel der Befragten stimmte der These zu, dass Deutschland durch Ausländer überfremdet sei. Jeder vierte Thüringer unter 25 zeigte Sympathien für rechtsradikale Parteien. Nur 16 Prozent waren mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden.
Nun, zwei Dekaden später, ist der Thüringen Monitor zu einer festen Institution geworden, ja fast zu einem politischen Ritual, das einige Nachahmer fand, etwa in Sachsen oder Sachsen-Anhalt. In dieser Zeit wich die erste Aufregung einer gewissen Betroffenheitsroutine. Die Ergebnisse, die zuerst noch auf die Wirren der Nachwendezeit geschoben wurden, verfestigten sich im Auf und Ab der Stimmungslagen und statistischen Schwankungen.
Staatliche Anstrengungen gab es viele, von Koordinierungsstellen in der Verwaltung über Sonderkommissionen bei der Polizei bis zu Landesprogrammen. Und sie wurden nach dem NSU-Schock im November 2011 nochmals verstärkt.
Und dennoch: Seit dem Jahr 2014 sitzt eine Partei im Erfurter Landtag, die in Teilen neben Demokratieverachtung und Ausländerfeindlichkeit viele andere der Ressentiments vertritt, die von den Jenaer Wissenschaftlern und Soziologen schon vor gut 20 Jahren gemessen wurden. Seit 2019 stellt die AfD mit 23,4 Prozent sogar die größte Oppositionsfraktion und geißelt regelmäßig die Ergebnisse des ThüringenMonitors als Diffamierung.
Der emeritierte Politikprofessor Karl Schmitt, der die frühen Ausgaben der Untersuchung betreute, wendet sich trotzdem gegen einfache Schlüsse. „Eine Gleichsetzung von AfD-Wählern und Menschen mit rechtsextremistischem Gedankengut ist falsch“, sagt er. Es gebe allerdings eine nachweisbare Häufung derartiger Einstellungen unter Anhängern der Partei.
Auch darüber dürfte an diesem Donnerstag in Jena diskutiert werden. Das Institut für Politikwissenschaft veranstaltet eine Konferenz unter Leitung von Marion Reiser, die neben ihrer Professur seit einiger Zeit den Thüringen-Monitor verantwortet. Für den Abend sind Podiumsdebatten geplant, an denen auch Schmitt und Ex-Regierungschef Vogel teilnehmen wollen.
Sie dürften würdigen, dass der Thüringen-Monitor die erste Langzeitstudie war, mit der die Debatte über Rechtsextremismus und Demokratie auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt wurde – zumal über die Jahre viele zentrale Themen, von Arbeitslosigkeit über Migration bis zur Pandemie, extra untersucht wurden. Die politische Bilanz kann dagegen höchstens gemischt ausfallen. Immerhin, „leichte Veränderungen zum Besseren“will Politikwissenschaftler Schmitt schon festgestellt haben.
Die öffentliche Veranstaltung wird am an diesem Donnerstag ab 17 Uhr im Internet übertragen auf: online-mmz.uni-jena.de/hs1.html