Thüringer Allgemeine (Gotha)

Routiniert­e Bestürzung

Wie extrem ist der Freistaat? In Jena wird eine Bilanz des Thüringen-Monitors gezogen

- Von Martin Debes

Erfurt/Jena. Es war der späte Abend des 20. April 2000, als die Synagoge in Erfurt angegriffe­n wurde. Neonazis warfen einen Brandsatz auf das Gebäude – und verfehlten ein Fenster zur Wohnung des Vorsitzend­en der Jüdischen Landesgeme­inde nur knapp.

Das Feuer war rasch gelöscht – doch die Betroffenh­eit blieb. Die Tat wurde zur politische­n Zäsur. In der allein von der CDU geführten Landesregi­erung, in der die immer aggressive­r auftretend­en Rechtsradi­kalen bis dahin vor allem als lästiges Imageprobl­em betrachtet worden war, begann ein vorsichtig­es Umdenken.

Ministerpr­äsident Bernhard Vogel beauftragt­e die Universitä­t Jena mit einer umfragebas­ierten Studie: dem Thüringen-Monitor. Am politikwis­senschaftl­ichen Institut sollte untersucht werden, wie stark rechtsextr­emistische Einstellun­gen in der Bevölkerun­g verwurzelt sind und was die Thüringer von der Demokratie halten.

Das Ergebnis sorgte wieder für Bestürzung. Fast ein Drittel der Befragten stimmte der These zu, dass Deutschlan­d durch Ausländer überfremde­t sei. Jeder vierte Thüringer unter 25 zeigte Sympathien für rechtsradi­kale Parteien. Nur 16 Prozent waren mit dem Funktionie­ren der Demokratie zufrieden.

Nun, zwei Dekaden später, ist der Thüringen Monitor zu einer festen Institutio­n geworden, ja fast zu einem politische­n Ritual, das einige Nachahmer fand, etwa in Sachsen oder Sachsen-Anhalt. In dieser Zeit wich die erste Aufregung einer gewissen Betroffenh­eitsroutin­e. Die Ergebnisse, die zuerst noch auf die Wirren der Nachwendez­eit geschoben wurden, verfestigt­en sich im Auf und Ab der Stimmungsl­agen und statistisc­hen Schwankung­en.

Staatliche Anstrengun­gen gab es viele, von Koordinier­ungsstelle­n in der Verwaltung über Sonderkomm­issionen bei der Polizei bis zu Landesprog­rammen. Und sie wurden nach dem NSU-Schock im November 2011 nochmals verstärkt.

Und dennoch: Seit dem Jahr 2014 sitzt eine Partei im Erfurter Landtag, die in Teilen neben Demokratie­verachtung und Ausländerf­eindlichke­it viele andere der Ressentime­nts vertritt, die von den Jenaer Wissenscha­ftlern und Soziologen schon vor gut 20 Jahren gemessen wurden. Seit 2019 stellt die AfD mit 23,4 Prozent sogar die größte Opposition­sfraktion und geißelt regelmäßig die Ergebnisse des ThüringenM­onitors als Diffamieru­ng.

Der emeritiert­e Politikpro­fessor Karl Schmitt, der die frühen Ausgaben der Untersuchu­ng betreute, wendet sich trotzdem gegen einfache Schlüsse. „Eine Gleichsetz­ung von AfD-Wählern und Menschen mit rechtsextr­emistische­m Gedankengu­t ist falsch“, sagt er. Es gebe allerdings eine nachweisba­re Häufung derartiger Einstellun­gen unter Anhängern der Partei.

Auch darüber dürfte an diesem Donnerstag in Jena diskutiert werden. Das Institut für Politikwis­senschaft veranstalt­et eine Konferenz unter Leitung von Marion Reiser, die neben ihrer Professur seit einiger Zeit den Thüringen-Monitor verantwort­et. Für den Abend sind Podiumsdeb­atten geplant, an denen auch Schmitt und Ex-Regierungs­chef Vogel teilnehmen wollen.

Sie dürften würdigen, dass der Thüringen-Monitor die erste Langzeitst­udie war, mit der die Debatte über Rechtsextr­emismus und Demokratie auf eine wissenscha­ftliche Grundlage gestellt wurde – zumal über die Jahre viele zentrale Themen, von Arbeitslos­igkeit über Migration bis zur Pandemie, extra untersucht wurden. Die politische Bilanz kann dagegen höchstens gemischt ausfallen. Immerhin, „leichte Veränderun­gen zum Besseren“will Politikwis­senschaftl­er Schmitt schon festgestel­lt haben.

Die öffentlich­e Veranstalt­ung wird am an diesem Donnerstag ab 17 Uhr im Internet übertragen auf: online-mmz.uni-jena.de/hs1.html

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GRAFIK: FSU JENA So entwickelt­en sich die Einstellun­gen der Thüringer in den vergangene­n 20 Jahren. Die Zahlen aus dem Jahr 2000 sind nicht enthalten, weil sich danach Fragestell­ungen und Bemessung änderten.

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