„Ich war lebendig begraben“
Dina Pronitschewa überlebte das Massaker von Babyn Jar vor 80 Jahren, bei dem mehr als 33.000 Juden starben. Der Bundespräsident warnt in Kiew vor neuem Antisemitismus
Kiew/Berlin. „Ich habe die Augen geschlossen und sprang in die Tiefe. Ich fiel auf die Leichen. Dann hörten die Schüsse auf und die Deutschen kamen nach unten in die Grube, gingen über die Körper und prüften, wer noch nicht tot war. Die erschossen sie. Ich verhielt mich so still ich konnte und rechnete mit meinem Ende. Dann wurde es dunkel. Sie schippten Sand auf die Körper. Ich verstand, dass ich lebendig begraben war.“
Dina Pronitschewa hat das Massaker von Babyn Jar überlebt. Sie konnte erzählen, was geschah.
Vor 80 Jahren, am 29. und 30. September 1941, wurden in weniger als 36 Stunden 33.771 jüdische Männer, Frauen und Kinder in einer Schlucht nahe Kiew erschossen. Die Täter haben sie gezählt und in ihren Berichten aufgelistet. Seitdem steht der Name Babyn Jar für eines der schlimmsten Massaker der Geschichte – mit deutscher Gründlichkeit geplant und von SS, Sicherheitspolizei und mit der Hilfe von Wehrmachtssoldaten verübt.
Wie durch ein Wunder blieb Dina Pronitschewa unverletzt: „Nachts bewegte ich meine linke Hand und spürte, dass sie an der Oberfläche war. Dann schaufelte ich mich frei, dass ich mehr Luft bekam, und schließlich grub ich mich ganz aus. Ich kroch über die Leiber aus der Erde wieder heraus.“Von oben, so sagt sie 1946 vor einem Militärtribunal in Kiew aus, „waren immer wieder Schüsse zu hören, sie feuerten noch im Dunkeln runter in die Schlucht. Ich war sehr vorsichtig. An einer Seite der Grube kletterte ich nach oben.“
Erst wenige Tage zuvor, am 19. September 1941, waren Einheiten der 6. Armee der Wehrmacht in Kiew einmarschiert. Später folgte die SS, angeführt von SS-Standartenführer Paul Blobel. Auf Plakaten wurde die jüdische Bevölkerung der Stadt aufgefordert, zu einem Sammelpunkt zu kommen. Angeblich sollten sie umgesiedelt werden. „Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen“, lautete die Drohung. Zehntausende folgten dem Aufruf zur Schlucht von Babyn Jar.
Eine Lehrerin aus der Stadt erinnert sich an diesen grauenhaften Morgen des 28. September, als sie sah, wie Menschen in einer nicht enden wollenden Kolonne schweigend durch die Straßen zogen. An der Schlucht wurde ihnen befohlen, sich auszuziehen. Sie mussten sich auf den Boden legen, mit dem Gesicht nach unten. Dann erschossen sie sie. Für die Mörder standen warme Mahlzeiten, Getränke und Schnaps bereit.
Es ist kein leichter Weg für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, auch nach 80 Jahren nicht. Er ist auf Einladung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj
mit seiner Frau Elke Büdenbender nach Kiew gereist – an diesen Schreckensort. Die Schlucht ist ein riesiges Massengrab. Bis zur Befreiung der ukrainischen Hauptstadt durch die Rote Armee im November 1943 wurden in Babyn Jar etwa 100.000 Menschen ermordet, auch Kriegsgefangene, Roma und andere.
An kaum einem anderen Ort wird so deutlich, dass der Holocaust an den Juden nicht erst in den deutschen Gaskammern und Todesfabriken begann, sondern viel früher – als „Holocaust durch Kugeln“, wie Steinmeier sagt, auf dem deutschen Eroberungsfeldzug Richtung Osten. Allein in der Ukraine wurden mehr als eine Million Juden in Orten erschossen, die in Deutschland so gut wie niemand kennt.
Steinmeier ist schon am Dienstagabend
in Kiew gelandet, um am Morgen Korjukiwka zu besuchen. Korjukiwka? Das ist einer der „blutgetränkten Namen“, wie Steinmeier sagt. Anfang März 1943 wurden dort unter der Führung eines SS-Sonderkommandos in zwei Tagen 6700 Männer, Frauen und Kinder ermordet. Es ist ein besonders brutales Beispiel für die unzähligen, von den deutschen Besatzern als „Strafaktionen“bezeichneten Massaker an ukrainischen Zivilisten im Zweiten Weltkrieg. Insgesamt fünf Millionen Zivilisten fielen in der Ukraine dem deutschen Vernichtungsfeldzug zum Opfer.
Als der Bundespräsident am Abend bei der Gedenkzeremonie im Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew seine Rede hält, ist auch Israels Präsident Izchak Herzog da. Steinmeier spricht von ehrlicher Erinnerung, ohne die es keine gute Zukunft gibt. Er dankt den Nachfahren der Opfer und den Menschen in der Ukraine dafür, dass sie „uns Deutschen die Hand gereicht haben“. Der Bundespräsident sagt: „Wir Deutsche wissen um unsere Verantwortung vor der Geschichte. Es ist eine Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt.“
Und dann wendet er sich an den israelischen Präsidenten Herzog: Er würde sich wünschen, er könnte sagen, „wir Deutsche haben ein für alle Mal aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht. Es schmerzt mich und es macht mich zornig, dass Antisemitismus auch in Deutschland – gerade in Deutschland – wieder stärker wird. Für uns Deutsche kann es darauf nur eine Antwort geben: Nie wieder!“
„Ich kroch über die Leiber aus der Erde wieder heraus.“Dina Pronitschewa,