Die Entdeckung der Vielfalt im Einen
„Die andere Seite“: Mit einem anregenden Essayband widmet die Klassik-Stiftung sich den Mehrfachbegabten in den Künsten
Eigentlich trug man sich bei der Klassik-Stiftung Weimar mit dem Vorhaben einer Jahresausstellung über mehrfachbegabte Künstler, doch nahm Präsidentin Ulrike Lorenz dieses substanzielle Projekt, dessen Vorarbeiten noch aus der Zeit ihres Amtsvorgängers herrühren, ersatzlos von der Agenda. Übrig geblieben davon ist nur eine großformatige, großartige Buchpublikation „Die andere Seite“, die nun in der Edition Fichter erschien: zahlreich und farbig bebildert, vielfältig, kompetent und opulent.
Naturgemäß denkt man in Weimar beim nämlichen Stichwort zuerst an den eigenen „Hausheiligen“, also an
Goethe. Der hat, obzwar „dilettierend“, mit Zeichenstift und -feder, Kreide und Aquarellpinsel viel Vorzeigbares zu Papier gebracht, und so widmen ihm Margarethe Oppel und Boris Roman Gebhardt je einen Essay: exemplarisch über streng komponierte Landschaftszeichnungen aus böhmischen und thüringischen Gefilden von 1810 sowie überblickshaft, indem seine hohe Lebenserfahrung und universelle Bildungsmächtigkeit als wichtiger Quell des Kreativen identifiziert wird.
Im Ganzen bietet das herrliche Buch mehr als 50 Essays, vor allem über Künstler vom späten 18. bis frühen 20. Jahrhundert. Leicht ließe sich diese Zeitachse dehnen; man denke nur an den „uomo universale“der Renaissance und an die Sonette Michelangelos ebenso wie an die Lithographien und Bronzen eines Günter Grass.
Aber auch so hat man bereits weit mehr als genug.
Schmökerstoff für Winterabende
Wer fasste schon Angelika Kauffmann als Musikerin, den „Maler Müller“als Dichter oder Füssli als Homme de Lettres in den Sinn? Der weite Bogen spannt sich über E.T.A. Hoffmann, Adele Schopenhauer, H. C. Andersen, Stifter, Keller, Nietzsche und Strindberg bis weit in die Moderne zu Feininger, Kubin, Kandinsky, Schönberg, Klee und Lasker-Schüler, zu Surrealisten und Dadaisten. Die für jedermann leicht lesbaren, gleichwohl akademischen Ansprüchen gemäßen Essays muss man nicht linear lesen, sondern findet darin schmökernd Anregung für die dunkle Jahreszeit.
Schließlich dient der Band als Hommage an Hermann Mildenberger, der nach fast 30 Jahren als Leiter der Graphischen Sammlungen aus dem Dienst der Stiftung schied. Mit einem Beitrag über Victor Hugo hat er noch eine Trouvaille parat...
H. Mildenberger, A. Seemann, S. Dahme (Hgg.): Die andere Seite. Das Phänomen der Mehrfachbegabung in den Künsten. 432 S., 200 Abb., Edition Fichter, Frankfurt am Main, 55 Euro