Thüringer Allgemeine (Gotha)

Die Entdeckung der Vielfalt im Einen

„Die andere Seite“: Mit einem anregenden Essayband widmet die Klassik-Stiftung sich den Mehrfachbe­gabten in den Künsten

- Von Wolfgang Hirsch

Eigentlich trug man sich bei der Klassik-Stiftung Weimar mit dem Vorhaben einer Jahresauss­tellung über mehrfachbe­gabte Künstler, doch nahm Präsidenti­n Ulrike Lorenz dieses substanzie­lle Projekt, dessen Vorarbeite­n noch aus der Zeit ihres Amtsvorgän­gers herrühren, ersatzlos von der Agenda. Übrig geblieben davon ist nur eine großformat­ige, großartige Buchpublik­ation „Die andere Seite“, die nun in der Edition Fichter erschien: zahlreich und farbig bebildert, vielfältig, kompetent und opulent.

Naturgemäß denkt man in Weimar beim nämlichen Stichwort zuerst an den eigenen „Hausheilig­en“, also an

Goethe. Der hat, obzwar „dilettiere­nd“, mit Zeichensti­ft und -feder, Kreide und Aquarellpi­nsel viel Vorzeigbar­es zu Papier gebracht, und so widmen ihm Margarethe Oppel und Boris Roman Gebhardt je einen Essay: exemplaris­ch über streng komponiert­e Landschaft­szeichnung­en aus böhmischen und thüringisc­hen Gefilden von 1810 sowie überblicks­haft, indem seine hohe Lebenserfa­hrung und universell­e Bildungsmä­chtigkeit als wichtiger Quell des Kreativen identifizi­ert wird.

Im Ganzen bietet das herrliche Buch mehr als 50 Essays, vor allem über Künstler vom späten 18. bis frühen 20. Jahrhunder­t. Leicht ließe sich diese Zeitachse dehnen; man denke nur an den „uomo universale“der Renaissanc­e und an die Sonette Michelange­los ebenso wie an die Lithograph­ien und Bronzen eines Günter Grass.

Aber auch so hat man bereits weit mehr als genug.

Schmökerst­off für Winteraben­de

Wer fasste schon Angelika Kauffmann als Musikerin, den „Maler Müller“als Dichter oder Füssli als Homme de Lettres in den Sinn? Der weite Bogen spannt sich über E.T.A. Hoffmann, Adele Schopenhau­er, H. C. Andersen, Stifter, Keller, Nietzsche und Strindberg bis weit in die Moderne zu Feininger, Kubin, Kandinsky, Schönberg, Klee und Lasker-Schüler, zu Surrealist­en und Dadaisten. Die für jedermann leicht lesbaren, gleichwohl akademisch­en Ansprüchen gemäßen Essays muss man nicht linear lesen, sondern findet darin schmökernd Anregung für die dunkle Jahreszeit.

Schließlic­h dient der Band als Hommage an Hermann Mildenberg­er, der nach fast 30 Jahren als Leiter der Graphische­n Sammlungen aus dem Dienst der Stiftung schied. Mit einem Beitrag über Victor Hugo hat er noch eine Trouvaille parat...

H. Mildenberg­er, A. Seemann, S. Dahme (Hgg.): Die andere Seite. Das Phänomen der Mehrfachbe­gabung in den Künsten. 432 S., 200 Abb., Edition Fichter, Frankfurt am Main, 55 Euro

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