„Ein Moment, den ich niemals vergessen werde“
Benjamin List erfuhr im Café, dass er den Chemie-Nobelpreis erhält. Seine Forschung beförderte die Entwicklung von Medikamenten
Mülheim/Stockholm. Benjamin List saß gerade während des Familienurlaubs in einem Amsterdamer Café, als er telefonisch über seine Auszeichnung informiert wurde. Als er bestellen wollten, habe er auf dem Display seines Handys eine schwedische Nummer gesehen, sagte der Chemieprofessor am Mittwoch. „Ich guckte meine Frau an, wir lächelten uns ironisch an – haha, das ist der Anruf. Als Witz.“Dann aber sei es wirklich der Anruf aus Stockholm gewesen. List: „Es war ein unglaublicher Moment, den ich niemals vergessen werde.“
List und der in Schottland geborene, in den USA arbeitende Forscherkollege David MacMillan haben für eine raffinierte Methode zur Beschleunigung chemischer Reaktionen den Nobelpreis für Chemie bekommen. Das teilte die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften am gestrigen Mittwoch mit. List, seit 2005 Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr, ist nach dem Klimaforscher Klaus Hasselmann (Physik) in diesem Jahr schon der zweite Nobelpreisträger aus Deutschland. Die renommierteste Auszeichnung für Chemiker ist mit insgesamt zehn Millionen Kronen, rund 980.000 Euro, dotiert.
List und MacMillan, beide 53 Jahre alt, haben ein neues Werkzeug für den Aufbau von Molekülen entwidukts ckelt, die asymmetrische Organokatalyse. Sie wird für die Erforschung neuer Arzneimittel eingesetzt und hat dazu beigetragen, Chemie umweltfreundlicher zu machen. Das Verfahren wird mittlerweile weltweit in akademischen und industriellen Laboren eingesetzt. Und es gab zudem den Startschuss für eine neue Klasse von Katalysatoren.
„Ein völlig neues Feld der Katalyse begründet“Katalysatoren beschleunigen chemische Reaktionen, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Vereinfacht gesagt helfen sie dabei, dass sich Molekül A in Molekül B umwandelt. Die Bedeutung von Katalysatoren
ist damit immens, praktisch kein chemischer Prozess in der Industrie kommt ohne sie aus.
Lange Zeit standen zwei Typen von Katalysatoren im Fokus: Metalle, die zum Beispiel zur Aufbereitung der Abgase im Auto verwendet werden, und Enzyme, die etwa in unserem Verdauungstrakt Nahrung in kleinste Komponenten aufspalten. Im Jahr 2000 veröffentlichten List, seit 2018 auch Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, und MacMillan, Gelehrter an der PrincetonUniversität in den USA, unabhängig voneinander Studien, in denen sie Beispiele einer bis dato unterschätzten Methode vorstellten. Die Forscher zeigten, dass einfache
Moleküle – häufig gewonnen aus Naturstoffen – ähnlich effizient als Katalysatoren wirken wie Metalle.
Dabei haben diese organischen Moleküle entscheidende Vorteile: Sie sind vergleichsweise billig, in der Regel unbedenklich für Mensch und Natur und lassen sich gut recyceln. „Dieses Konzept der Katalyse ist so einfach wie genial. Tatsächlich haben sich viele Menschen gefragt, warum wir nicht früher darüber nachgedacht haben“, sagte am Mittwoch Johan Åqvist vom Nobel-Komitee.
Die Organokatalyse an sich war schon vor dem Jahr 2000 nicht neu. Aber sie hatte vor List und MacMillan ein entscheidendes Manko: Die Ausbeute des gewünschten Prowar nicht groß genug. Zudem entstand oftmals das unerwünschte Spiegelbild des Moleküls, das aber ganz andere Eigenschaften haben kann. Das kann insbesondere bei Medikamenten lebensgefährliche Folgen haben. List und MacMillan bekamen mit ihren Ansätzen dieses Problem in den Griff. „Mithilfe unserer Forschung konnte zum Beispiel ein neues antivirales Medikament für die HIV-Behandlung entwickelt werden, das den Patienten hilft. Ich bin stolz und dankbar, dass ich dazu beitragen konnte“, sagte Benjamin List im Gespräch mit unserer Redaktion.
List, ein Liebhaber klassischer Musik, kam mit seiner Familie vor elf Jahren ins Ruhrgebiet nach Mülheim. Zuvor lebten er im kalifornischen San Diego. Dort arbeitete List zuvor als Assistant-Professor am Scripps Research Institute in La Jolla, einem Vorort der WestküstenMetropole. Studiert hatte er unter anderem in Frankfurt am Main und Berlin.
„Ich habe nicht im Traum damit gerechnet, schon gar nicht in meinem Alter“, spielte List auf das meist fortgeschrittene Alter vieler Nobelpreisträger an. Am Telefon habe er dann aber die Stimme des
Komiteepräsidenten erkannt. „Da wusste ich dann doch: Es ist ernst“, sagte der Vater zweier Jungen. Dann musste List, den Freunde und Kollegen kurz Ben nennen, auch noch selbst Überzeugungsarbeit leisten. Denn die Vertreter der Schwedischen Akademie hatten zuvor vergeblich versucht, Mitpreisträger David MacMillan an der zu diesem Zeitpunkt noch in tiefer Nacht versunkenen US-Ostküste zu erreichen, und baten den Deutschen um Hilfe. „Ich habe Dave angerufen und ihm gesagt: Dave, wach auf, wir haben den Nobelpreis gewonnen. Doch er wollte es mir nicht glauben.“
Beruflicher Erfolg ist für List dabei nicht alles – das weiß er spätestens seit Weihnachten 2004. Damals erlebte er zusammen mit seiner Frau und seinen damals fünf und drei Jahre alten Söhnen in Thailand den Tsunami mit. Sie saßen gerade am Swimmingpool, als die Riesenwelle kam. Die Familie wurde auseinandergerissen, der Fünfjährige schwer verletzt. Den jüngeren Sohn fanden sie erst spät am Abend in einem 100 Kilometer entfernten Krankenhaus wieder.
Sie seien damals „unglaublich dankbar und glücklich“gewesen, einfach nur überlebt zu haben, erzählte List im vergangenen Juni in einem Podcast. „Was ich vor allem daraus mitgenommen habe, war dieses Gefühl zu wissen, worauf es wirklich ankommt im Leben. Dass man gesund ist und dass die Familie da ist und es allen gut geht.“mit dpa