Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Ein Moment, den ich niemals vergessen werde“

Benjamin List erfuhr im Café, dass er den Chemie-Nobelpreis erhält. Seine Forschung beförderte die Entwicklun­g von Medikament­en

- Von Michael Kohlstadt, Christophe­r Onkelbach, Deike Frey

Mülheim/Stockholm. Benjamin List saß gerade während des Familienur­laubs in einem Amsterdame­r Café, als er telefonisc­h über seine Auszeichnu­ng informiert wurde. Als er bestellen wollten, habe er auf dem Display seines Handys eine schwedisch­e Nummer gesehen, sagte der Chemieprof­essor am Mittwoch. „Ich guckte meine Frau an, wir lächelten uns ironisch an – haha, das ist der Anruf. Als Witz.“Dann aber sei es wirklich der Anruf aus Stockholm gewesen. List: „Es war ein unglaublic­her Moment, den ich niemals vergessen werde.“

List und der in Schottland geborene, in den USA arbeitende Forscherko­llege David MacMillan haben für eine raffiniert­e Methode zur Beschleuni­gung chemischer Reaktionen den Nobelpreis für Chemie bekommen. Das teilte die Königlich-Schwedisch­e Akademie der Wissenscha­ften am gestrigen Mittwoch mit. List, seit 2005 Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für Kohlenfors­chung in Mülheim an der Ruhr, ist nach dem Klimaforsc­her Klaus Hasselmann (Physik) in diesem Jahr schon der zweite Nobelpreis­träger aus Deutschlan­d. Die renommiert­este Auszeichnu­ng für Chemiker ist mit insgesamt zehn Millionen Kronen, rund 980.000 Euro, dotiert.

List und MacMillan, beide 53 Jahre alt, haben ein neues Werkzeug für den Aufbau von Molekülen entwidukts ckelt, die asymmetris­che Organokata­lyse. Sie wird für die Erforschun­g neuer Arzneimitt­el eingesetzt und hat dazu beigetrage­n, Chemie umweltfreu­ndlicher zu machen. Das Verfahren wird mittlerwei­le weltweit in akademisch­en und industriel­len Laboren eingesetzt. Und es gab zudem den Startschus­s für eine neue Klasse von Katalysato­ren.

„Ein völlig neues Feld der Katalyse begründet“Katalysato­ren beschleuni­gen chemische Reaktionen, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Vereinfach­t gesagt helfen sie dabei, dass sich Molekül A in Molekül B umwandelt. Die Bedeutung von Katalysato­ren

ist damit immens, praktisch kein chemischer Prozess in der Industrie kommt ohne sie aus.

Lange Zeit standen zwei Typen von Katalysato­ren im Fokus: Metalle, die zum Beispiel zur Aufbereitu­ng der Abgase im Auto verwendet werden, und Enzyme, die etwa in unserem Verdauungs­trakt Nahrung in kleinste Komponente­n aufspalten. Im Jahr 2000 veröffentl­ichten List, seit 2018 auch Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina, und MacMillan, Gelehrter an der PrincetonU­niversität in den USA, unabhängig voneinande­r Studien, in denen sie Beispiele einer bis dato unterschät­zten Methode vorstellte­n. Die Forscher zeigten, dass einfache

Moleküle – häufig gewonnen aus Naturstoff­en – ähnlich effizient als Katalysato­ren wirken wie Metalle.

Dabei haben diese organische­n Moleküle entscheide­nde Vorteile: Sie sind vergleichs­weise billig, in der Regel unbedenkli­ch für Mensch und Natur und lassen sich gut recyceln. „Dieses Konzept der Katalyse ist so einfach wie genial. Tatsächlic­h haben sich viele Menschen gefragt, warum wir nicht früher darüber nachgedach­t haben“, sagte am Mittwoch Johan Åqvist vom Nobel-Komitee.

Die Organokata­lyse an sich war schon vor dem Jahr 2000 nicht neu. Aber sie hatte vor List und MacMillan ein entscheide­ndes Manko: Die Ausbeute des gewünschte­n Prowar nicht groß genug. Zudem entstand oftmals das unerwünsch­te Spiegelbil­d des Moleküls, das aber ganz andere Eigenschaf­ten haben kann. Das kann insbesonde­re bei Medikament­en lebensgefä­hrliche Folgen haben. List und MacMillan bekamen mit ihren Ansätzen dieses Problem in den Griff. „Mithilfe unserer Forschung konnte zum Beispiel ein neues antivirale­s Medikament für die HIV-Behandlung entwickelt werden, das den Patienten hilft. Ich bin stolz und dankbar, dass ich dazu beitragen konnte“, sagte Benjamin List im Gespräch mit unserer Redaktion.

List, ein Liebhaber klassische­r Musik, kam mit seiner Familie vor elf Jahren ins Ruhrgebiet nach Mülheim. Zuvor lebten er im kalifornis­chen San Diego. Dort arbeitete List zuvor als Assistant-Professor am Scripps Research Institute in La Jolla, einem Vorort der Westküsten­Metropole. Studiert hatte er unter anderem in Frankfurt am Main und Berlin.

„Ich habe nicht im Traum damit gerechnet, schon gar nicht in meinem Alter“, spielte List auf das meist fortgeschr­ittene Alter vieler Nobelpreis­träger an. Am Telefon habe er dann aber die Stimme des

Komiteeprä­sidenten erkannt. „Da wusste ich dann doch: Es ist ernst“, sagte der Vater zweier Jungen. Dann musste List, den Freunde und Kollegen kurz Ben nennen, auch noch selbst Überzeugun­gsarbeit leisten. Denn die Vertreter der Schwedisch­en Akademie hatten zuvor vergeblich versucht, Mitpreistr­äger David MacMillan an der zu diesem Zeitpunkt noch in tiefer Nacht versunkene­n US-Ostküste zu erreichen, und baten den Deutschen um Hilfe. „Ich habe Dave angerufen und ihm gesagt: Dave, wach auf, wir haben den Nobelpreis gewonnen. Doch er wollte es mir nicht glauben.“

Berufliche­r Erfolg ist für List dabei nicht alles – das weiß er spätestens seit Weihnachte­n 2004. Damals erlebte er zusammen mit seiner Frau und seinen damals fünf und drei Jahre alten Söhnen in Thailand den Tsunami mit. Sie saßen gerade am Swimmingpo­ol, als die Riesenwell­e kam. Die Familie wurde auseinande­rgerissen, der Fünfjährig­e schwer verletzt. Den jüngeren Sohn fanden sie erst spät am Abend in einem 100 Kilometer entfernten Krankenhau­s wieder.

Sie seien damals „unglaublic­h dankbar und glücklich“gewesen, einfach nur überlebt zu haben, erzählte List im vergangene­n Juni in einem Podcast. „Was ich vor allem daraus mitgenomme­n habe, war dieses Gefühl zu wissen, worauf es wirklich ankommt im Leben. Dass man gesund ist und dass die Familie da ist und es allen gut geht.“mit dpa

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FOTO: FEDERICO GAMBARINI / DPA Blumen für den Nobelpreis­träger: Benjamin List reiste am Mittwoch schnell aus Amsterdam zurück nach Mülheim, um sich am Max-Planck-Institut für Kohlenfors­chung feiern zu lassen.
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F: DPA Ebenfalls ausgezeich­net: Nobelpreis­träger David MacMillan.

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