Die tiefen Wunden der Diktatur
32 Jahre nach dem Mauerfall: So wird mit Betroffenen das erfahrene Leid aufgearbeitet
Erfurt/Leinefelde/Gera. Vor 32 Jahren öffneten sich die Grenzen der DDR. Nicht jedem haben die Jahrzehnte danach nur Gutes gebracht. Mancher musste nicht nur beruflich dunkle Phasen durchstehen. Andere fühlen sich bis heute in ihrer Lebensleistung nicht angemessen gewürdigt. Und dann sind da jene Menschen, die nicht groß von sich reden machen, aber umso heftiger leiden. Für sie war das Ende der DDR einerseits ein Befreiungsschlag, weil so der unmittelbare Zugriff des Unrechtsstaates endete; andererseits wirken traumatische Erlebnisse aus jener Zeit bis heute nach. Die Wunden, die der SEDund Stasistaat mit seinem Personal geschlagen hat, konnten nicht bei allen verheilen. Von ihnen soll hier die Rede sein.
Wenn ein grünes Hemd den ganzen erlittenen Schmerz wieder hervorruft Es kann ein bestimmter Geruch sein. Ein Geräusch. Ein Wort. Trigger nennt sich das. Gemeint ist damit ein Auslöser, der den Schmerz und das Ohnmachtsgefühl von jetzt auf gleich in die Gegenwart holt. Ein Auslöser, der den Atem nimmt. Der Fluchtreaktionen auslöst. Plötzlich ist für einen traumatisierten Menschen eine Situation aus der Vergangenheit gegenwärtig. So ein Trigger kann auch ein grünes Hemd sein.
Robert Sommer, Jahrgang 1979, kennt das aus seiner Arbeit als Betroffenen-Berater. Er ist in Erfurt beim Thüringer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur beschäftigt und hat über die „Psychodramatische Arbeit in Selbsterfahrungsgruppen für Menschen mit Diktaturerfahrung in Thüringen“einen wichtigen Aufsatz geschrieben, gemeinsam mit Bernd Seifert, Jahrgang 1966. Sommer ist Sozialpädagoge, Supervisor im Bereich Psychodrama; Seifert Theologe und Systemischer Therapeut.
Die zentrale Erkenntnis ihrer Arbeit lautet: Die Erfahrungen und Verletzungen, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die Diktatur der DDR und deren Akteure erfuhren, haben in ihrem Leben bis heute auffindbare und nachwirkende Spuren hinterlassen. Es bedürfe in ihrem gegenwärtigen Alltag „oft nur kleiner Anstöße, traumatische Muster zu reaktivieren.“Dieses Aufbrechen des Vergangenen, das die Betroffenen als ein erneutes Erleben in der Jetzt-Zeit erfahren, einer Neubewertung zugänglich zu machen, sei die Chance, die die Gruppenarbeit bietet. Angesprochen werden ebenso ehemalige DDR-Heimkinder wie andere Personen mit Diktaturerfahrung. Wichtig seien dabei neu zu erlernende Muster und damit ein neues Verhalten, erklären Sommer und Seifert mit Blick auf ihre Arbeit.
Etwa ein Drittel der Betroffenen bei den Sitzungen sind Frauen
Es sind meist Angehörige älterer Jahrgänge, die sich an den Gruppensitzungen beteiligen. So beispielsweise aktuell in Leinefelde und in Gera. Acht bis zehn Personen kommen innerhalb von fünf Monaten immer wieder zusammen – acht Sitzungen à zweieinhalb Stunden, damit Zeit bleibt, sich intensiv mit dem zu befassen, was die Beteiligten bewegt: Reden. Zuhören. Das ist wichtig als Bewältigungsstrategie. Jeder erfährt vom anderen viel darüber, wie derjenige mit der Last der Vergangenheit umgeht. Nicht wenige in der Runde sind arbeitsunfähig. Andere stoßen im Rentenalter auf das Angebot. Sommer betont als Betroffenen-Berater: „Wir machen keine Therapie!“Bisher fanden achtzig Sitzungen in sieben psychodramatisch arbeitenden Gruppenprozessen mit insgesamt 78 Teilnehmenden statt, etwa ein Drittel davon Frauen.
In der Gruppenarbeit sollen sich die Teilnehmenden als stark und steuerungsfähig wahrnehmen. Oft hatten sie sich aufgrund ihrer biografischen Vergangenheit eher als ohnmächtig und ausgeliefert erlebt. Die Gruppe diene zugleich als Motor und Motivator der Auseinandersetzung. Robert Sommer spricht von der Aktualisierungstendenz des Selbst. Es gibt Situationen, mit denen er oder sein Kollege zuvor noch nie konfrontiert war. In einer Gruppensitzung, erzählt er, trug sein Kollege ein grünes Hemd. Für eine Frau war eben diese Herrenoberkleidung der Trigger, der sie in eine Situation zurückwarf, in der sie einst staatlichen Übergriffen ohnmächtig ausgeliefert war. Wie sich herausstellte, katapultierte sie der Anblick dieses Hemdes in eine Lage zurück, als sie von einem Polizisten unter Druck gesetzt worden war.
Aufgearbeitet wird in der Gruppe aber nicht nur, was zu DDR-Zeiten geschah. Wichtig ist auch das, was Sommer und Seifert die „Krise der Erfolgreichen“nennen. Das spielt auf den oft jahre-, wenn nicht gar jahrzehntelangen Vorgang der Rehabilitierung an. Einzelne Betroffene, die Rehabilitierung einfordern, stehen mit ihren je eigenen Grenzen physischer und psychischer Kraft dem Rechtsstaat mit seiner Maxime, dass Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen nachvollziehbar sein müssen, gegenüber, heißt es. „Hinzu kommt die Überforderung des Rechtsstaats durch die Erwartung der Betroffenen, dass ihnen für alles Erlittene nun Gerechtigkeit und Wiedergutmachung widerfährt“, machen Sommer und Seifert deutlich.
Der Rehabilitierungsprozess erfordert eine große Kraftanstrengung
So werde der Rehabilitierungsprozess zum kräftezehrenden Kampf, den sie neben einem schon als nicht einfach erlebten Alltag zu bestehen haben. Robert Sommer erklärt im Gespräch, wie groß die Anstrengung der Beteiligten sei, sich Sitzung für Sitzung auf den Gruppenprozess einzulassen. Sie müssten „erst ein Bewusstsein dafür entwickeln, ihr eigenes Handeln auch entsprechend wertschätzen und würdigen zu können“. Die Teilnehmer in den Gruppen sollen sich durch die psychosoziale Beratung als „Subjekt des Handelns und des eigenen Lebens begreifen und in diesem Bewusstsein gestärkt werden“. Letztlich biete sich durch die Gruppenarbeit „ein erlebbarer Gegenentwurf zu den diktatorischen Erfahrungen“, stellt Robert Sommer in Aussicht.
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