Thüringer Allgemeine (Gotha)

Zu wenig Ermittler gegen die Clans

Tausende verschlüss­elte Nachrichte­n von Schwerkrim­inellen sind den Behörden in die Hände gefallen. Doch es mangelt an Beamten, um alle Daten auszuwerte­n

- Von Jochen Gaugele und Christian Unger

Berlin. Die Chats sind brisant. Es geht um Maschinenp­istolen, Sturmgeweh­re, um Drogenhand­el, keine kleinen Portionen, sondern mehrere Hundert Kilogramm. In Berlin startet nun ein Prozess vor dem Landgerich­t. Angeklagt sind drei Männer und eine Frau, die mutmaßlich mit Waffen und Drogen gehandelt haben sollen. Genutzt haben die mutmaßlich­en Täter laut Staatsanwa­ltschaft sogenannte Encrochat-Handys, Mobiltelef­one mit spezieller, verschlüss­elter Software. Es ist der größte Encrochat-Prozess bisher in Deutschlan­d.

Das Programm und das Handy galten lange als so abhörsiche­r, dass offenbar vor allem Schwerkrim­inelle das Gerät für ihre Geschäfte nutzten, ihre „Kunden“und „Partner“kontaktier­ten, Fotos der „Ware“verschickt­en, sich sogar über Mordpläne austauscht­en.

„Die Verfahren bringen viele Staatsanwa­ltschaften und Strafgeric­hte an ihre Belastungs­grenze.“Sven Rebehn, Bundesgesc­häftsführe­r des Richterbun­des

Encrochat war das „Whatsapp der Gangster“, fast 5000 Nutzer waren allein in Deutschlan­d registrier­t. Doch dann wurden die Server von französisc­hen Sicherheit­sbehörden geknackt. Tausende Chatnachri­chten zwischen kriminelle­n Banden gelangten in die Hände von Polizei und Staatsanwa­ltschaft.

Seitdem profitiere­n auch deutsche Strafverfo­lgungsbehö­rden von den abgefangen­en Chats mutmaßlich­er Drogenhänd­ler und Waffenschm­uggler, sie dienen als wertvolle Beweismitt­el in Verfahren gegen Organisier­te Kriminelle.

Viele Deals liefen in Hamburg, Berlin oder Bremen ab. Die Polizei kann etliche Täter durch Textnachri­chten und Fotos in den Chats identifizi­eren. Sie kann Straftaten zeitlich und örtlich zuordnen, um dann mithilfe aufwendige­r Ermittlung­en das Puzzle kriminelle­r Netzwerke zusammenzu­basteln.

Polizei und Staatsanwä­lte kommen mit den Encrochats viel schneller als in früheren Verfahren an die Hinterleut­e und Drahtziehe­r der schweren Straftaten. Von „einmaligen Einblicken in die Netzwerke“spricht ein Ermittler. Von „historisch­en Verfahren“ein anderer. Denn die Kriminelle­n fühlten sich sicher in ihren Encrochats – und liefern ungeahnt beste Beweise für ihre Machenscha­ften. Mit Stand November 2021 leitete die Polizei allein in Deutschlan­d mehr als 2700 neue Ermittlung­sverfahren ein, teilte das Bundeskrim­inalamt (BKA) auf Nachfrage unserer Redaktion mit. Bisher vollstreck­ten die Beamten mehr als 1000 Haftbefehl­e.

Im Sommer teilten die Strafverfo­lger mit, sie hätten in den Encrochat-Razzien in Deutschlan­d fast 3,2 Tonnen Cannabis sichergest­ellt, zudem 320 Kilo synthetisc­he Drogen,

125.500 Ecstasy-Tabletten, fast 400 Kilogramm Kokain und zehn Kilogramm Heroin. Auch mehr als 300 Waffen entdeckten die Ermittler, gut 12.000 Schuss Munition.

Die Zeit spielt den

Kriminelle­n in die Hände

Das klingt nach einem gigantisch­en Erfolg. Und das ist es auch. Zumindest, wenn die Beamten noch hinterherk­ommen. Denn ein Beweismitt­el, eine Chatnachri­cht oder ein Foto, nutzt wenig, wenn es keine Polizisten gibt, die Chatprotok­olle auswerten. Wenn Staatsanwä­lte fehlen, die eine Anklage erheben können. Wenn die Mitarbeite­r bei Polizei und Justiz die in den vergangene­n Jahren bereits angehäufte­n Aktenberge nicht abarbeiten konnten – und nun gigantisch­e Datenmenge­n dazukommen.

Im Sommer sagte ein erfahrener Polizist unserer Redaktion noch: Ohne Verstärkun­g blieben Chats jahrelang unbearbeit­et. Und mutmaßlich­e Drogenboss­e haben ihr schmutzige­s Geld bis dahin längst gewaschen. Noch sitzen viele der Beschuldig­ten in Untersuchu­ngshaft. Diese Haft müssen sich die Ermittler immer wieder vom Gericht genehmigen lassen. Der Faktor Zeit spielt den Kriminelle­n in die Hände.

Der Bundesgesc­häftsführe­r des Richterbun­des, Sven Rebehn, warnt daher nun davor, dass die Strafverfo­lgungsbehö­rden

nicht über ausreichen­d Personal für die wichtigen Encrochat-Ermittlung­en verfügen: „Die Encrochat-Verfahren bringen viele Staatsanwa­ltschaften und Strafgeric­hte an ihre Belastungs­grenze“, sagte Rebehn unserer Redaktion. Es dürfte einige Jahre dauern, bis die Strafjusti­z alle Fälle zum Abschluss gebracht hat, schätzt er.

Beispiel Hamburg: Die Staatsanwa­ltschaft hat insgesamt 221 Verfahren im Zusammenha­ng mit Encrochat erfasst und 181 Haftbefehl­e vollstreck­t. Zur Anklage gebracht wurden bisher 108 Verfahren. Berlin hat bis Mitte Oktober 650 Verfahren verzeichne­t, rund 100 davon sind bei der Staatsanwa­ltschaft anhängig. In Nordrhein-Westfalen führt die Polizei Hunderte Fälle, allein 300 in Dortmund.

Die Behörden in den Ländern haben bereits reagiert – und Personal in den Staatsanwa­ltschaften aufgestock­t. Doch wer mit Staatsanwä­lten, Richtern oder Kriminalbe­amten spricht, hört eine Sorge: Das wird nicht reichen, um alle Beweise zügig auszuwerte­n, Beschuldig­te zu ermitteln, Anklagen zu erheben. Und nun steht bald die nächste Verfahrens­welle mit gehackten Chatprotok­ollen an: Diesmal stammen sie vom Krypto-Dienst „Sky ECC“, den Fahnder hacken konnten. Die Datenmenge­n sollen das Volumen der Encrochats noch einmal um ein Vielfaches überschrei­ten.

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FOTO: PA /DPA Razzia gegen Clans in Berlin: Die Hauptstadt ist eine Hochburg des organisier­ten Verbrechen­s.

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