Zu wenig Ermittler gegen die Clans
Tausende verschlüsselte Nachrichten von Schwerkriminellen sind den Behörden in die Hände gefallen. Doch es mangelt an Beamten, um alle Daten auszuwerten
Berlin. Die Chats sind brisant. Es geht um Maschinenpistolen, Sturmgewehre, um Drogenhandel, keine kleinen Portionen, sondern mehrere Hundert Kilogramm. In Berlin startet nun ein Prozess vor dem Landgericht. Angeklagt sind drei Männer und eine Frau, die mutmaßlich mit Waffen und Drogen gehandelt haben sollen. Genutzt haben die mutmaßlichen Täter laut Staatsanwaltschaft sogenannte Encrochat-Handys, Mobiltelefone mit spezieller, verschlüsselter Software. Es ist der größte Encrochat-Prozess bisher in Deutschland.
Das Programm und das Handy galten lange als so abhörsicher, dass offenbar vor allem Schwerkriminelle das Gerät für ihre Geschäfte nutzten, ihre „Kunden“und „Partner“kontaktierten, Fotos der „Ware“verschickten, sich sogar über Mordpläne austauschten.
„Die Verfahren bringen viele Staatsanwaltschaften und Strafgerichte an ihre Belastungsgrenze.“Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Richterbundes
Encrochat war das „Whatsapp der Gangster“, fast 5000 Nutzer waren allein in Deutschland registriert. Doch dann wurden die Server von französischen Sicherheitsbehörden geknackt. Tausende Chatnachrichten zwischen kriminellen Banden gelangten in die Hände von Polizei und Staatsanwaltschaft.
Seitdem profitieren auch deutsche Strafverfolgungsbehörden von den abgefangenen Chats mutmaßlicher Drogenhändler und Waffenschmuggler, sie dienen als wertvolle Beweismittel in Verfahren gegen Organisierte Kriminelle.
Viele Deals liefen in Hamburg, Berlin oder Bremen ab. Die Polizei kann etliche Täter durch Textnachrichten und Fotos in den Chats identifizieren. Sie kann Straftaten zeitlich und örtlich zuordnen, um dann mithilfe aufwendiger Ermittlungen das Puzzle krimineller Netzwerke zusammenzubasteln.
Polizei und Staatsanwälte kommen mit den Encrochats viel schneller als in früheren Verfahren an die Hinterleute und Drahtzieher der schweren Straftaten. Von „einmaligen Einblicken in die Netzwerke“spricht ein Ermittler. Von „historischen Verfahren“ein anderer. Denn die Kriminellen fühlten sich sicher in ihren Encrochats – und liefern ungeahnt beste Beweise für ihre Machenschaften. Mit Stand November 2021 leitete die Polizei allein in Deutschland mehr als 2700 neue Ermittlungsverfahren ein, teilte das Bundeskriminalamt (BKA) auf Nachfrage unserer Redaktion mit. Bisher vollstreckten die Beamten mehr als 1000 Haftbefehle.
Im Sommer teilten die Strafverfolger mit, sie hätten in den Encrochat-Razzien in Deutschland fast 3,2 Tonnen Cannabis sichergestellt, zudem 320 Kilo synthetische Drogen,
125.500 Ecstasy-Tabletten, fast 400 Kilogramm Kokain und zehn Kilogramm Heroin. Auch mehr als 300 Waffen entdeckten die Ermittler, gut 12.000 Schuss Munition.
Die Zeit spielt den
Kriminellen in die Hände
Das klingt nach einem gigantischen Erfolg. Und das ist es auch. Zumindest, wenn die Beamten noch hinterherkommen. Denn ein Beweismittel, eine Chatnachricht oder ein Foto, nutzt wenig, wenn es keine Polizisten gibt, die Chatprotokolle auswerten. Wenn Staatsanwälte fehlen, die eine Anklage erheben können. Wenn die Mitarbeiter bei Polizei und Justiz die in den vergangenen Jahren bereits angehäuften Aktenberge nicht abarbeiten konnten – und nun gigantische Datenmengen dazukommen.
Im Sommer sagte ein erfahrener Polizist unserer Redaktion noch: Ohne Verstärkung blieben Chats jahrelang unbearbeitet. Und mutmaßliche Drogenbosse haben ihr schmutziges Geld bis dahin längst gewaschen. Noch sitzen viele der Beschuldigten in Untersuchungshaft. Diese Haft müssen sich die Ermittler immer wieder vom Gericht genehmigen lassen. Der Faktor Zeit spielt den Kriminellen in die Hände.
Der Bundesgeschäftsführer des Richterbundes, Sven Rebehn, warnt daher nun davor, dass die Strafverfolgungsbehörden
nicht über ausreichend Personal für die wichtigen Encrochat-Ermittlungen verfügen: „Die Encrochat-Verfahren bringen viele Staatsanwaltschaften und Strafgerichte an ihre Belastungsgrenze“, sagte Rebehn unserer Redaktion. Es dürfte einige Jahre dauern, bis die Strafjustiz alle Fälle zum Abschluss gebracht hat, schätzt er.
Beispiel Hamburg: Die Staatsanwaltschaft hat insgesamt 221 Verfahren im Zusammenhang mit Encrochat erfasst und 181 Haftbefehle vollstreckt. Zur Anklage gebracht wurden bisher 108 Verfahren. Berlin hat bis Mitte Oktober 650 Verfahren verzeichnet, rund 100 davon sind bei der Staatsanwaltschaft anhängig. In Nordrhein-Westfalen führt die Polizei Hunderte Fälle, allein 300 in Dortmund.
Die Behörden in den Ländern haben bereits reagiert – und Personal in den Staatsanwaltschaften aufgestockt. Doch wer mit Staatsanwälten, Richtern oder Kriminalbeamten spricht, hört eine Sorge: Das wird nicht reichen, um alle Beweise zügig auszuwerten, Beschuldigte zu ermitteln, Anklagen zu erheben. Und nun steht bald die nächste Verfahrenswelle mit gehackten Chatprotokollen an: Diesmal stammen sie vom Krypto-Dienst „Sky ECC“, den Fahnder hacken konnten. Die Datenmengen sollen das Volumen der Encrochats noch einmal um ein Vielfaches überschreiten.