ZWISCHENRUF Niemand spielt hier die SED nach
Neulich telefonierte ich wieder mit Mathias Pletz. Der Professor gehört zu den Chefärzten, die das Universitätsklinikum Jena durch die Wellen dieser Pandemie steuern. Ich fasse das Gespräch mal sehr vorsichtig so zusammen: Die Lage ist beschissen.
Noch im Juli hatte Pletz nicht an diese Eskalation geglaubt. So schrieb der Beirat der Landesregierung, dem er selbst angehört: „Die Situation hat sich durch die Verfügbarkeit von Impfstoffen grundlegend geändert.“Daraus folge: „Die Krankheitslast nimmt insgesamt ab und ist nunmehr eher mit zum Beispiel der saisonalen Grippewelle vergleichbar.“
Dies war damals wissenschaftliche Mehrheitsmeinung. Zwar listete das Robert-Koch-Institut im Sommer verschiedene, von der jeweiligen Impfquote abhängige Szenarien auf, von denen das dramatischste recht präzise die derzeitige Situation beschrieb. Aber zu diesem Zeitpunkt gingen Wissenschaft und Politik davon aus, dass sich bis zum Herbst deutlich mehr Menschen impfen lassen würden.
Sagten nicht die Studien, dass der Anteil der echten Verweigerer nur bei zehn bis maximal 15 Prozent liegen würde? Und meinte nicht auch das RKI, dass wir bei der Impfquote von mehr als 85 Prozent halbwegs glimpflich durch den nächsten Winter kämen?
Tja. Die Kollision mit der Realität ist insbesondere in Thüringen zu besichtigen. Hier sind immer noch nur 61,5 Prozent der Menschen vollständig gegen das Corona-Virus geimpft. Gleichzeitig lässt der Impfschutz schneller nach als anfangs angenommen, vor allem bei Älteren und bezüglich der Infektionsgefahr. Schon nach wenigen Monaten sind geimpfte Menschen zeitweise ähnlich stark ansteckend wie Ungeimpfte, wobei sie immerhin weniger erkranken.
In der Folge dämmen die 2Gund 3G-Modelle das Virus nur bedingt ein – vor allem dann, wenn im Gegenzug, so wie in Thüringen, auf die Maskenpflicht verzichtet wurde. Damit bleiben, zumindest bis eine Mehrheit ihre BoosterImpfung hat, zwei indirekte Wirkungen übrig, die zuletzt endlich offen kommuniziert wurden.
Erstens verhindert 2G vorerst den generellen Lockdown einschließlich aller daraus resultierenden sozialen und ökonomischen Schäden. Zweitens handelt es sich um eine Impfpflicht light. Wer am öffentlichen Leben teilnehmen will, muss sich impfen lassen.
Das alles ist wirklich unschön, um das Mindeste zu sagen. Die Gesellschaft spaltet sich tiefer, die Debatte verroht zusehends.
Doch im Gegensatz zu dem, was Attilas und AfDler unermüdlich erzählen, spielt hier niemand die SED nach. Es bereitet keinem der Beteiligten Freude, mindestens ein Drittel der Bevölkerung auszugrenzen. Dies hat weniger mit reiner Menschenfreundlichkeit zu tun, sondern mit Eigeninteresse. Keine Parteien, Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften oder Geheimdienste können von dem profitieren, was gerade wieder geschieht.
Vielmehr ist es doch so: Gerade deshalb, weil niemand mit der Pandemie, dem Impfzwang oder gar der Aussicht auf einen Lockdown die sowieso reichlich genervte Wählerschaft für sich gewinnen konnte, wurde das Thema aus dem Bundestagswahlkampf ausgeblendet, ja fast negiert. Selbst als die Impfquote im September kaum mehr stieg, derweil die Zahl der Durchbrüche zunahm, blieb es bei der kollektiven Verdrängung.
Danach begann das erwartbare Machtmikado in Berlin. Sechs Wochen wartete die Regierung auf die künftige Koalition – und umgekehrt. Das Einzige, auf das man sich einigen konnte, war ausgerechnet: die erklärte pandemische Notlage auslaufen zu lassen, während die echte Notlage entstand.
Jetzt, da die Krankenhäuser voll sind, herrscht wieder dieselbe panische Hektik wie zu Beginn der Wellen Nummer 1, 2 und 3. Ansonsten beschuldigt jeder jeden für die Misere – und hat es, zwischenrufende Kolumnisten eingeschlossen, sowieso schon immer besser gewusst. Das Erregungsritual ist das einzig Verlässliche in dieser verdammten Pandemie.
Und Mathias Pletz? Er rät der Politik, den Journalisten und uns allen, von wohl verstandener Wissenschaft zu lernen. „Es bedeutet keinen Gesichtsverlust, wenn man seine Meinung ändert, wenn sich die Fakten ändern“, sagt er. „Es signalisiert, dass man seine Verantwortung wahrnimmt.“