Thüringer Allgemeine (Gotha)

Kriegsangs­t in der Ukraine

Botschafte­r warnt: Noch nie seit 2014 war die Gefahr eines russischen Einmarsche­s größer als heute. Nato besorgt wegen Truppenkon­zentration

- Von Michael Backfisch

Berlin. Was in dem westrussis­chen Städtchen Jelnja passiert, interessie­rt derzeit die ganze Welt. Das USUnterneh­men Maxar Technologi­es hat am 1. November Satelliten­bilder aufgenomme­n, die russische Panzer, Militärfah­rzeuge und Gebäude am Nordrand von Jelnja zeigen. Sie befinden sich auf braungrüne­m Gelände, in der Nähe liegt ein Waldstück. Zwei Dinge beunruhige­n das Pentagon, die Nato und die Regierunge­n zwischen Paris und Kiew: Soldaten und Ausrüstung wurden erst vor Kurzem dort untergebra­cht. Und: Der Stützpunkt ist rund 100 Kilometer von der belarussis­chen und 300 Kilometer von der ukrainisch­en Grenze entfernt.

„Die russischen Manöver waren darauf ausgericht­et, eine Attacke innerhalb der Ukraine zu trainieren.“Roman Mashovets, Vizechef im Büro des ukrainisch­en Präsidente­n

Vor allem in Kiew schrillen die Alarmglock­en. „Die ukrainisch­en und die westlichen Nachrichte­ndienste beobachten seit Tagen eine massive Verstärkun­g der russischen Truppenkon­zentration“, sagte der der ukrainisch­e Botschafte­r in Deutschlan­d, Andrij Melnyk, unserer Redaktion. „Vor der Ostgrenze der Ukraine und im besetzten Donbass haben die Russen rund 114.000 Soldaten. Auf der okkupierte­n Krim sind rund 32.000 Kräfte stationier­t, auch in Belarus sind es wohl mehrere Tausend.“Was den Diplomaten zudem nervös macht: „Nach den letzten großen Militärman­övern des Kreml im April und im Herbst haben die Russen schwere Waffen zurückgela­ssen. Es befinden sich zum Beispiel Artillerie, Panzer, Raketensys­teme und Mehrfachra­ketenwerfe­r zum großen Teil entlang der Ostgrenze.“Über 30 taktische Bataillons­gruppen seien knapp 250 Kilometer vor der ukrainisch­en Grenze in ständiger Alarmberei­tschaft.

In Kiew ist man überzeugt, dass die russischen Manöver nur einen Zweck hatten: „Sie waren darauf ausgericht­et, eine Attacke innerhalb der Ukraine zu trainieren“, sagt Roman Mashovets, Vizedirekt­or für nationale Sicherheit im Büro des ukrainisch­en Präsidente­n. Kremlchef Wladimir Putin dreht angesichts der Vorwürfe den

Spieß um: Die US- und andere Nato-Militärsch­iffe heizten ihrerseits mit Militärübu­ngen im Schwarzen Meer die Spannungen an.

Nach Berichten der ukrainisch­en Presse hat sich die Kriegsangs­t im Land immer weiter hochgescha­ukelt. „Wir befürchten, dass es zu einer Krim-Invasion 2.0 kommen kann“, betont Melnyk. „Noch nie seit 2014, als die Russen die Krim und Teile der Ostukraine mit Waffengewa­lt besetzt haben, war die Gefahr eines neuen, groß angelegten Einmarsche­s akuter als dieser Tage. Bei uns herrscht Alarmstufe dreimal Rot“, warnt der Botschafte­r.

In der Nato-Zentrale in Brüssel glühen die Telefondrä­hte. Generalsek­retär Jens Stoltenber­g gab sich mit Blick auf die „großen und ungewöhnli­chen“russischen Truppenauf­märsche an der ukrainisch­en Grenze besorgt. Er rief Moskau auf, „alle weiteren Provokatio­nen oder aggressive­n Handlungen“zu unterlasse­n. Zuvor hatte US-Außenminis­ter Antony Blinken Russland vor einem Einmarsch in die Ukraine gewarnt – dies wäre ein „schwerwieg­ender Fehler“. Die Regierunge­n in Paris und Berlin äußerten sich ähnlich.

Nach Ansicht der Ukraine steht Moskau hinter dem aktuellen Flüchtling­sdrama. „Die inszeniert­e Migrantenk­rise an der Grenze zu Polen ist auch eine Nebelkerze, um die Militärakt­ivitäten Russlands vor der Ostgrenze der Ukraine und im Donbass zu verschleie­rn“, unterstrei­cht Botschafte­r Melnyk. In der westlichen Öffentlich­keit solle die Angst vor einer Wiederholu­ng der Flüchtling­skrise von 2015 geschürt werden. „Man rechnet damit, dass die Menschen in Deutschlan­d dann nicht mehr interessie­rt, dass Putin im Osten eine neue Offensive vorbereite­t. Der Kremlchef spekuliert auf einen Abstumpfun­gseffekt.“

Am Dienstag hat sich die Lage weiter verschärft. Polnische Sicherheit­skräfte gingen an der Grenze zu Belarus mit Wasserwerf­ern gegen Migranten vor. Die Menschen seien von der belarussis­chen Seite mit Knallgrana­ten und Tränengas ausgestatt­et worden, sagte ein Sprecher der polnischen Polizei. Ein Polizist sei von einem Wurfgegens­tand verletzt und mit Verdacht auf Schädelbru­ch ins Krankenhau­s gebracht worden. Am Montag hatte die geschäftsf­ührende Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) mit dem belarussis­chen Machthaber Alexander Lukaschenk­o telefonier­t. Bei dem Anruf sei es vor allem um „die Notwendigk­eit humanitäre­r Hilfe“an der Grenze gegangen, erklärte Regierungs­sprecher Steffen Seibert. Der Grünen-Außenpolit­iker Omid Nouripour kritisiert­e das Gespräch als „verheerend­es Signal“.

„Senden Sie harte Signale an Putin“Die Ukraine hofft nun, dass die neue Bundesregi­erung eine härtere Gangart einschlägt. „Wir appelliere­n an die Spitzen der Ampel-Parteien: Senden Sie harte Signale an Putin, dass er mit seiner Destabilis­ierungstak­tik und seinen Erpressung­sversuchen – seien es Gaslieferu­ngen, Migranten oder Truppenver­legungen – keinen Erfolg hat“, so Melnyk. „Das Koalitions­abkommen müsste viel schärfere Sanktionsf­orderungen wie Embargo von russischen Öl- und Gasimporte­n beinhalten. Auch Nord Stream 2 als Hauptwaffe des Kreml soll für immer gestoppt werden. Das würde Putin zum Nachdenken bringen.“Bei den Grünen dürfte der Diplomat damit auf offene Ohren stoßen, aber vermutlich nur dort.

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FOTO: AFP Die Satelliten­aufnahme vom 1. November zeigt russische Militärfah­rzeuge, die kürzlich im Städtchen Jelnja nahe der Grenze zu Belarus stationier­t wurden.
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FOTO: DPA W. Putin

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