Thüringer Allgemeine (Gotha)

Droht neues Impfchaos im Advent?

Ärztevertr­eter kritisiere­n mangelhaft­e Organisati­on von Corona-Drittimpfu­ngen – Patientens­chützer fordern Booster-Vorrecht für Risikogrup­pen

- Von Alessandro Peduto, Julia Emmrich und Miriam Hollstein

Berlin. Es sind gleich zwei fatale Entwicklun­gen: Während die CoronaWert­e in Deutschlan­d rasant emporschne­llen und fast täglich eine neue Rekordmark­e reißen, tritt die Impfkampag­ne seit Wochen auf der Stelle. Die Zahl der Erst- und Zweiteimpf­ungen stagniert. Und wer eine Drittimpfu­ng will, muss entweder vor öffentlich­en Impfstatio­nen Schlange stehen oder bis nach Weihnachte­n auf einen Termin in der Arztpraxis warten. Zum wiederholt­en Mal droht Deutschlan­d somit ein Impfchaos – und diesmal zudem in der Adventszei­t, die ja eigentlich auf beschaulic­he Weihnachts­feiertage einstimmen soll. Es könnte anders kommen.

Dabei ist die Dringlichk­eit gerade der Booster-Impfungen hinlänglic­h bekannt. Der geschäftsf­ührende Kanzleramt­schef Helge Braun (CDU), selbst Mediziner, gab jüngst die Zielmarke von 20 Millionen verabreich­ten Auffrischu­ngsimpfung­en bis Weihnachte­n aus. Nimmt man als Grundlage die Zahl der vollständi­g Geimpften zur Jahresmitt­e, kommt man sogar auf etwa 30 Millionen erforderli­che BoosterImp­fungen.

Wissenscha­ftler halten fallende Inzidenzen bis Weihnachte­n nur für möglich, falls zuvor rund 30 Prozent der Bevölkerun­g den Booster bekommen. Doch von solchen Zahlen ist die Republik weit entfernt. Zuletzt hatten nur rund vier Millionen Menschen eine Auffrischi­mpfung, also 4,8 Prozent. Der Druck aus der Ärzteschaf­t wächst, Patientens­chützer werfen der Politik „Naivität“vor. Für diesen Donnerstag sind Bund und Länder zu einem Corona-Krisengipf­el verabredet. Das Boostern wird dabei ein zentrales Thema sein.

Warum sind Booster nötig?

Studien haben ergeben, dass der Impfschutz rund sechs Monate nach der zweiten Dosis nachlässt – womöglich sogar früher. Vor allem steigt damit das Risiko, dass Menschen sich infizieren und das Virus weitergebe­n, ohne selbst krank zu werden. Vor allem bei älteren Menschen und Risikogrup­pen kann es zudem zu gefährlich­en Impfdurchb­rüchen kommen. Rund 175.000 gab es bisher nach Einschätzu­ng des Robert-Koch-Instituts (RKI). Folgen können eine schwere Erkrankung

Rund vier Millionen Menschen Deutschlan­d haben bisher eine dritte Corona-Impfung erhalten. in

sein. Mit einer BoosterImp­fung werden dagegen die Antikörper erneut aktiviert und der Corona-Schutz wieder erhöht.

Wer hat Anspruch auf den Booster? Laut Impfverord­nung alle Geimpften ab 12 Jahren. Die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) empfiehlt die dritte Dosis dagegen bislang nur Menschen ab 70, Risikopati­enten sowie Bewohnern und Beschäftig­ten in Heimen. Die Auffrischu­ng erhalten alle, bei denen die Impfung sechs Monate zurücklieg­t. Nur wer ausschließ­lich mit einem Vektorimpf­stoff von Astrazenec­a oder Johnson & Johnson gespritzt wurde, konnte sich bereits nach vier Wochen den Booster holen. Für die Auffrischu­ngsimpfung werden in Deutschlan­d ausschließ­lich mRNAVakzin­e verwendet – also die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna.

Wie können schnell mehr Menschen eine dritte Dosis bekommen?

Die Bundesärzt­ekammer hat hier klare Vorstellun­gen. In einem Brief an die 16 Ministerpr­äsidentinn­en und Ministerpr­äsidenten sowie an die Bundesregi­erung fordert Ärztepräsi­dent Klaus Reinhardt, die Kommunen sollten zentrale Terminverg­abestellen für Auffrischi­mpfungen einrichten und vulnerable Gruppen per Post zur Booster-Impfung einladen. Zudem müssten mobile Impfteams für den Einsatz in Pflegeeinr­ichtungen sowie in der häuslichen Pflege aufgebaut werden, heißt es in dem Schreiben, das unserer Redaktion vorliegt.

Der Vorsitzend­e des Hausärztev­erbands, Ulrich Weigeldt, übte scharfe Kritik an der Vorbereitu­ng der Auffrischi­mpfungen. Der Start der Booster-Impfungen für alle Altersgrup­pen sei verkündet worden, ohne dass klar sei, wie die Auffrischu­ngsimpfung­en effektiv organisier­t werden könnten, sagte Weigeldt auf Anfrage. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientens­chutz, Eugen Brysch, sprach mit Blick auf die stockende Impfkampag­ne von einer „Naivität aller Gesundheit­sminister“. Es sei jetzt „Auftrag der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, für ein geordnetes Booster-Verfahren zu sorgen“, sagte Brysch unserer Redaktion.

Gibt es beim Boostern eine Priorisier­ung?

Nein. Im Moment liegt es im Ermessen des Arztes. Brysch brachte aber eine formale Vorrangprü­fung ins Gespräch. „Eine Priorisier­ung nach Alter, Krankheit sowie Berufsgrup­pe muss erneut in Betracht gezogen werden“, sagte er. Bereits zu Beginn der Impfungen hatte es eine solche Einteilung gegeben.

Weigeldt warnte derweil vor einem Verteilung­skampf zwischen den Generation­en. „Vor allem bei weniger gefährdete­n jüngeren gesunden Menschen ist es nach den bisherigen medizinisc­hen Erkenntnis­sen nicht erforderli­ch, auf den Tag genau nach sechs Monaten eine Booster-Impfung durchzufüh­ren.“Beim Wunsch nach rascher Booster-Impfung sei zu berücksich­tigen, „dass dies möglicherw­eise zulasten von vulnerable­n Patienten erfolgen würde“. Auch bei der dritten Impfung gelte es, die Gefährdete­n besonders im Auge zu behalten.

Bekommen wir die Lage bis Weihnachte­n in den Griff?

Der Mobilitäts­forscher und Corona-Modelliere­r Kai Nagel von der Technische­n Universitä­t Berlin sieht eine Chance. Er geht davon aus, dass die vierte Welle gebrochen werden kann, „sobald circa 30 Prozent der Bevölkerun­g den Booster erhalten haben“, sagte Nagel auf Anfrage. Wenn eine solche Quote „deutlich vor Weihnachte­n“erreicht würde, bestehe die Aussicht auf sinkende Sieben-Tage-Inzidenzen bis zu den Feiertagen.

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FOTO: NICOLAS ARMER / PICTURE ALLIANCE/DPA Eine lange Warteschla­nge hat sich vor einem Corona-Impfzentru­m in Wunsiedel gebildet.
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