Das Ich im Wir, das Wir im Ich
Fünf Weimarer Schauspielerinnen lassen „Die Jahre“von Annie Ernaux Revue passieren
Weimar. Dieses Buch ist, obschon voller dramatischer Ereignisse im Privaten wie im Politischen, völlig undramatisch. Es beginnt mit einer Gewissheit („Alle Bilder werden verschwinden.“) und endet 250 Seiten später mit einer Hoffnung („Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“) Dazwischen will es „einfangen, welches Bild die kollektive Geschichte auf die Leinwand des individuellen Gedächtnisses projiziert hat“, und konstatiert: „Für unser persönliches Leben hatte die große Geschichte keine Bedeutung. An einigen Tagen war man glücklich, an anderen nicht.“
Das sind „Die Jahre“der Annie Ernaux, inzwischen 81: eine „unpersönliche Autobiografie“von 2008, obwohl es darin sehr persönlich wird, nur halt depersonalisiert.
Das „Ich“kommt nicht vor, dafür die Draufsicht auf „Sie“, die Einordnung ins „Wir“, das Verschwinden im „Man“. Es sucht nach und versucht sich in Erinnerungen an ein Leben pars pro toto: ein, das ist von Belang, Frauenleben im Frankreich hauptsächlich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem eine tat und ließ, was alle taten und ließen. Bilder sind seine Haltepunkte: Fotos, Schmalfilme, Videos, das Kino. Und auch mit seinen Aufzählungen und Listen ist dies ein literarisches Album, in dem sich viel besser blättern lässt als es durchzulesen.
Kurz und gut: Das ist so gar kein Buch für das Theater. Eigentlich.
Regisseur Jan Neumann entdeckte darin dennoch eine bühnentaugliche Struktur und entwickelte daraus mit fünf Schauspielerinnen, die kaum zufällig in fünf aufeinander folgenden Jahrzehnten geboren wurden, ein Stück für jeweils 30 Zuschauer im E-Werk Weimar.
Vor der Tür hackt Nadja Robiné in Brautkleid und Wattejacke Holz, bevor sie drinnen Gemüsesuppe kocht. Anna Windmüller bügelt Hemden, Rosa Falkenhagen hält den Körper auf dem Laufband fit, Dascha Trautwein hat im Fotolabor zu tun. Elke Wieditz, die älteste, wird all die vorüberfliegenden Jahre in eine Schreibmaschine hämmern.
Wie sich der Abend im Kesselsaal, den Matthias Werner wie auf dem Dachboden mit weißen Tüchern verhangen und verpackt sowie Wäscheleinen durchzogen hat, anlässt, gibt zu Befürchtungen Anlass: ein langer Monolog, aufgeteilt auf fünf Stimmen und mit chorischen Echos. Solche eher mühevolle Textverarbeitung, in denen sie das lieber schnell wegsprechen, bevor sie es noch vergessen, gibt’s in knapp zwei Stunden immer wieder.
Sie finden dann aber doch viele wunderbare Gelegenheiten, Luft zu holen und an den Text zu lassen, gleichsam zwischen seine Zeilen zu kriechen und mit ihm zu spielen – und vor allem auch miteinander.
So entfalten sie aus vielen kleinen Bruchstücken ein großes buntes Tableau des Lebens zwischen Zuversicht und Verdruss, Anspruch und Wirklichkeit, revolutionärer Haltung und konservativer Lebensführung, zwischen Aufbruch, Ausbruch und Zusammenbruch. Eine jede ist darin Annie, in einer anderen Lebensphase, die sich in den anderen spiegelt, sich erstaunt, erfreut, ernüchtert wiedererkennt.
Während die Waschmaschine rotiert und die Suppe köchelt, geht es am Familienesstisch im Zentrum und um ihn herum zur Sache: von der Nachkriegskindheit in katholischer, verklemmter und bigotter Provinz über die Studentenrevolte ‘68 und die gleichsam konterrevolutionäre Konsum- und Freizeitgesellschaft bis zum 11. September 2001 und hinein in die digitale Amnesie.
Verhalten und verschämt probieren sie sich an Worten wie „Penis“und „Scheide“, ausgelassen feiern sie die Antibabypille, üben sich geduldig in der Mutterrolle, rufen mit uns „Ich will Sex!“Sie bekriegen einander, befriedigen und befrieden sich selbst. Sie suchen nach Haltungen zwischen Lustobjekt und lustvollem Subjekt. Sie kotzen Lieder aus, parodieren sie, spüren ihnen nach, zur Musik von Johannes Winde an Klavier und Gitarre. Sie sind das Ich im Wir und das Wir im Ich.
Eine starke heiter-melancholische Revue dort, wo sie ausbricht.
„Für unser persönliches Leben hatte die große Geschichte keine Bedeutung.“Annie Ernaux, Schriftstellerin aus Frankreich, in ihrem Buch „Die Jahre“
Wieder zu sehen am 30.11. sowie am 11. und am 30.12. (20.11. ausverkauft).