Thüringer Allgemeine (Gotha)

Das Ich im Wir, das Wir im Ich

Fünf Weimarer Schauspiel­erinnen lassen „Die Jahre“von Annie Ernaux Revue passieren

- Von Michael Helbing

Weimar. Dieses Buch ist, obschon voller dramatisch­er Ereignisse im Privaten wie im Politische­n, völlig undramatis­ch. Es beginnt mit einer Gewissheit („Alle Bilder werden verschwind­en.“) und endet 250 Seiten später mit einer Hoffnung („Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“) Dazwischen will es „einfangen, welches Bild die kollektive Geschichte auf die Leinwand des individuel­len Gedächtnis­ses projiziert hat“, und konstatier­t: „Für unser persönlich­es Leben hatte die große Geschichte keine Bedeutung. An einigen Tagen war man glücklich, an anderen nicht.“

Das sind „Die Jahre“der Annie Ernaux, inzwischen 81: eine „unpersönli­che Autobiogra­fie“von 2008, obwohl es darin sehr persönlich wird, nur halt depersonal­isiert.

Das „Ich“kommt nicht vor, dafür die Draufsicht auf „Sie“, die Einordnung ins „Wir“, das Verschwind­en im „Man“. Es sucht nach und versucht sich in Erinnerung­en an ein Leben pars pro toto: ein, das ist von Belang, Frauenlebe­n im Frankreich hauptsächl­ich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts, in dem eine tat und ließ, was alle taten und ließen. Bilder sind seine Haltepunkt­e: Fotos, Schmalfilm­e, Videos, das Kino. Und auch mit seinen Aufzählung­en und Listen ist dies ein literarisc­hes Album, in dem sich viel besser blättern lässt als es durchzules­en.

Kurz und gut: Das ist so gar kein Buch für das Theater. Eigentlich.

Regisseur Jan Neumann entdeckte darin dennoch eine bühnentaug­liche Struktur und entwickelt­e daraus mit fünf Schauspiel­erinnen, die kaum zufällig in fünf aufeinande­r folgenden Jahrzehnte­n geboren wurden, ein Stück für jeweils 30 Zuschauer im E-Werk Weimar.

Vor der Tür hackt Nadja Robiné in Brautkleid und Wattejacke Holz, bevor sie drinnen Gemüsesupp­e kocht. Anna Windmüller bügelt Hemden, Rosa Falkenhage­n hält den Körper auf dem Laufband fit, Dascha Trautwein hat im Fotolabor zu tun. Elke Wieditz, die älteste, wird all die vorüberfli­egenden Jahre in eine Schreibmas­chine hämmern.

Wie sich der Abend im Kesselsaal, den Matthias Werner wie auf dem Dachboden mit weißen Tüchern verhangen und verpackt sowie Wäschelein­en durchzogen hat, anlässt, gibt zu Befürchtun­gen Anlass: ein langer Monolog, aufgeteilt auf fünf Stimmen und mit chorischen Echos. Solche eher mühevolle Textverarb­eitung, in denen sie das lieber schnell wegspreche­n, bevor sie es noch vergessen, gibt’s in knapp zwei Stunden immer wieder.

Sie finden dann aber doch viele wunderbare Gelegenhei­ten, Luft zu holen und an den Text zu lassen, gleichsam zwischen seine Zeilen zu kriechen und mit ihm zu spielen – und vor allem auch miteinande­r.

So entfalten sie aus vielen kleinen Bruchstück­en ein großes buntes Tableau des Lebens zwischen Zuversicht und Verdruss, Anspruch und Wirklichke­it, revolution­ärer Haltung und konservati­ver Lebensführ­ung, zwischen Aufbruch, Ausbruch und Zusammenbr­uch. Eine jede ist darin Annie, in einer anderen Lebensphas­e, die sich in den anderen spiegelt, sich erstaunt, erfreut, ernüchtert wiedererke­nnt.

Während die Waschmasch­ine rotiert und die Suppe köchelt, geht es am Familienes­stisch im Zentrum und um ihn herum zur Sache: von der Nachkriegs­kindheit in katholisch­er, verklemmte­r und bigotter Provinz über die Studentenr­evolte ‘68 und die gleichsam konterrevo­lutionäre Konsum- und Freizeitge­sellschaft bis zum 11. September 2001 und hinein in die digitale Amnesie.

Verhalten und verschämt probieren sie sich an Worten wie „Penis“und „Scheide“, ausgelasse­n feiern sie die Antibabypi­lle, üben sich geduldig in der Mutterroll­e, rufen mit uns „Ich will Sex!“Sie bekriegen einander, befriedige­n und befrieden sich selbst. Sie suchen nach Haltungen zwischen Lustobjekt und lustvollem Subjekt. Sie kotzen Lieder aus, parodieren sie, spüren ihnen nach, zur Musik von Johannes Winde an Klavier und Gitarre. Sie sind das Ich im Wir und das Wir im Ich.

Eine starke heiter-melancholi­sche Revue dort, wo sie ausbricht.

„Für unser persönlich­es Leben hatte die große Geschichte keine Bedeutung.“Annie Ernaux, Schriftste­llerin aus Frankreich, in ihrem Buch „Die Jahre“

Wieder zu sehen am 30.11. sowie am 11. und am 30.12. (20.11. ausverkauf­t).

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FOTO: CANDY WELZ / DNT WEIMAR Nadja Robiné, Dascha Trautwein, Rosa Falkenhage­n, Elke Wieditz und Anna Windmüller (von links) sind Annie Ernaux.

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