Goethe und das Genietreiben in Weimar
In frühen Jahren mochte der spätere Dichterfürst gemeinsam mit dem jugendlichen Regenten jede Menge Übermütiges
Weimar. Wenn ich durch das mir zugeneigte Weimar gehe, so füllt es sich mit Leben der Gegenwart. Durchstreife ich den historischen Friedhof mit seinen Grabstätten, so erzählt mir dieser eine Unzahl Geschichten aus der Vergangenheit.
Blicke ich in der Friedhofsallee aufwärts, weiß ich, dort oben in der Fürstengruft ruhen Goethe und sein Gönner Herzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Meine Fantasie springt in die zweihundert Jahre zurückliegende Vergangenheit. Es ist ein Salto mit unbefriedigendem Ausgang, denn ich begegne den beiden Schicksalsgefährten nicht persönlich. Ich stelle sie mir stattdessen in ihrem Habitus vor, gekleidet in der Montur von Goethes Romanhelden Werther. Herzog Karl August hat es Goethe gleichgetan und präsentiert sich ebenfalls im blauen Frack mit Messingknöpfen, gelber Weste, ledernen Beinkleidern und Stulpenstiefeln. So stolzieren sie jugendlich burschikos durch das damals noch triste Weimar mit seinen schmutzigen Straßen und Gassen, in denen die Gerüche der ausgeschütteten Nachtgeschirre in die Nase steigen.
In meiner Vorstellung folge ich den beiden bis zum Marktplatz. Ich spüre, sie haben Tollheiten im Kopf. Und da stehen sie mit gespreizten Beinen, die Peitschen knallend – den Marktfrauen fährt der Schrecken in die Glieder. Karl Augusts überschießende Anwandlung, jetzt in der hellen Mittagszeit ein Feuerwerk loszulassen, bedurfte Goethes freundschaftlicher Korrektur. Goethes genialische Eingebungen aus der Welt der Fantasie sind unerschöpflich und der Herzog trägt ein übriges dazu bei.
Oft muss der Dichter den Herzog in seinem ungestüm-derben Übermut bremsen, was er bald aufgibt, weil auch seine Hitzköpfigkeit mit ihm durchgeht. Der gerade mündig gewordene Regent, der sich in die Regierungsgeschäfte einfügen muss, hat sich schnell mit Johann Wolfgangs Naturell verbrüdert.
So arbeitet Goethes Geist oft mit überhöhter Drehzahl, wie manch heutiger jugendliche Übermut mit enormer Kraft unter der Motorhaube des Unverstandes. Die wilden Ritte mit den Pferden führten die beiden oft in die Nähe des Halsbrechens. Durch die umliegenden Orte galoppierten sie, als Gespenster in Bettlaken gehüllt. Oft ritten sie in die Dörfer zu Festen und Trinkgelagen. Affären mit Bauernmädchen, Goethe nannte sie Misels, waren an der „Nachtordnung“. Sie „liebelten“die Mädchen und einem hätten sie sogar den Rock über dem Kopf zusammengebunden.
Mit all diesen Eskapaden verbrachten Goethe und Karl August die ersten gemeinsamen Jahre in Weimar, im Spannungsfeld des sogenannten Genietreibens und der Verantwortung für das Herzogtum, der sie letztendlich gerecht wurden. Was aus Goethe selbst geworden ist, bedarf keiner Erklärung.