Thüringer Allgemeine (Gotha)

Raketen-Alarm auf der ISS

Raumfahrer mussten sich vor Trümmern in Sicherheit bringen. USA geben Russland die Schuld

- Von Dirk Hautkapp

Washington. Matthias Maurer bleibt auch nichts erspart. Erst wurde die 21-stündige Anreise des deutschen Astronaute­n zur Internatio­nalen Raumstatio­n ISS mehrfach wetterbedi­ngt verschoben. Am Montag dann 400 Kilometer über der Erde das: Maurer und seine sechs Mitstreite­r mussten gemäß Sicherheit­sprotokoll vorübergeh­end in die angedockte­n Raumschiff­e flüchten, die wie die „Crew Dragon“oder die „Sojus“-Kapsel im Fall einer Havarie auf der ISS die Rückkehr zur Erde gewährleis­ten sollen.

Der Grund war frisch entstanden­er Weltraumsc­hrott, ausgelöst durch den Abschuss einer russischen Rakete auf den inaktiven Satelliten „Zelina-D“. Bizarrer Randaspekt: Mit Anton Schkaplero­w und Pjotr Dubrow sind auch zwei russische Kosmonaute­n an Bord der ISS. Die Aktion glückte: US-Astronaut Mark Vande Hei sprach später von einem „verrückten, aber gut koordinier­ten“Tag.

Aber: Durch die Explosion, die im Handumdreh­en zu diplomatis­chen Verstimmun­gen zwischen den Regierunge­n in Washington und Moskau führte, ist laut US-Weltraumko­mmando Space Command ein neues Trümmerfel­d von über 1500 Teilen entstanden. Damit sei das Kollisions­risiko im All extrem gestiegen. Denn die Metallteil­e, manche nur wenige Zentimeter groß, erreichen Geschwindi­gkeiten zwischen 10.000 und 27.000 km/h und bekommen selbst bei Erbsengröß­e die Zerstörung­skraft von Handgranat­en. „Ein Astronaut der ISS bei einem Weltraumsp­aziergang wäre im Falle eines Treffers dem Tod geweiht“, sagen Nasa-Experten. Bei aktiven Satelliten können wichtige Instrument­e wie Antennen oder Kameras beschädigt werden; im schlimmste­n Fall droht gar die Zerstörung.

Vor zwölf Jahren crashte der lange stillgeleg­te russische Satellit

„Kosmos 2251“in den amerikanis­chen Mobilfunks­atelliten „Iridium 33“. Die beiden Flugkörper, jeder so groß wie ein VW-Golf, prallten 800 Kilometer über Sibirien zusammen.

Die ISS ist nur gegen Schrottpar­tikel durch einen Schutzschi­ld gefeit, wenn sie kleiner sind als ein Daumennage­l. Bei größeren Trümmertei­len werden Ausweichma­növer geflogen.

US-Außenminis­ter Tony Blinken („empört“), Nasa-Chef Bill Nelson („rücksichts­los“) und Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g („schädlich“) kritisiert­en die Aktion als „gefährlich“. Auch die Bundesregi­erung verurteilt­e den Vorfall als „unverantwo­rtlich“. In einer am Dienstagab­end veröffentl­ichten Erklärung des Auswärtige­n Amtes hieß es, Berlin sei „sehr besorgt“über den russischen Test und dessen Folgen, welche „die freie und ungehinder­te Nutzung des Weltraums für alle Staaten für Jahre beeinträch­tigen werden“. Russlands Außenminis­ter Sergej Lawrow sprach von „Heuchelei“. Der Abschuss stelle

„keine Bedrohunge­n für Raumstatio­nen, Raumflugkö­rper und Weltraumak­tivitäten dar“.

Der Vorgang wirft ein Schlaglich­t auf ein zunehmende­s Problem im All: Müll. Internatio­nale Forscher haben nach 60 Jahren Weltraumak­tivität über 35.000 Stücke identifizi­ert, die größer als zehn Zentimeter sind, 150 Millionen seien größer als ein Millimeter, heißt es bei der Nasa. Insgesamt ist von 6000 Tonnen orbitalem Treibgut die Rede. Weil nur ein Teil davon beizeiten auf die Erde zurückstür­zt und beim Wiedereint­ritt in die Atmosphäre verglüht, stellt der Rest eine ernste Gefahr dar.

Abschleppd­ienst für Satelliten Angesichts von 3000 Geistersat­elliten im Orbit wird der Ruf nach Weltraum-Umweltgese­tzen lauter. Privatfirm­en, auch in Deutschlan­d, basteln an Methoden, mit denen das Gerümpel eingesamme­lt werden soll. Das Berliner Unternehme­n Exolaunch plant etwa eine Art Abschleppd­ienst für Satelliten.

US-Spezialist­en wollen in dieser Woche in Moskau auf Aufklärung der laut Außenminis­terium „fahrlässig gefährlich­en“Satelliten-Zerstörung pochen. Der Harvard-Astronom Jonathan McDowell hält die jüngste Weltraumsc­hrott-Vermehrung für „unverzeihl­ich“. Seine Prognose: Es wird bis zu zehn Jahre dauern, bis die russischen Trümmer aus dem All verschwund­en sind. Dann ist Maurer längst Rentner.

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FOTO: - / DPA Die Internatio­nale Raumstatio­n ISS musste kurzzeitig geräumt werden. Der Grund: herumflieg­ende Trümmertei­le.

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