Vom Leben mit der Bedrohung
Was ein Thüringer Oberbürgermeister dem Bundespräsidenten über seinen Job mitteilte
Berlin/Altenburg. Der Bundespräsident hat Grundsätzliches zu sagen, weshalb er sich erst einmal hinter einem graumetallisch schimmernden Rednerpult mit goldgelbem Bundesadler positioniert. „Der Spaziergang hat seine Unschuld verlassen“, sagt also Frank-Walter Steinmeier am Montagnachmittag im Berliner Schloss Bellevue. „Hass und Gewalt gegen Menschen, die Verantwortung tragen, haben ein erschreckendes Ausmaß erreicht.“
Die Gefahr sei real und konkret, das zeigten Morde und Mordversuche an Politikern, aber auch an einem einfachen Tankstellenmitarbeiter in der Vergangenheit. „Wir dürfen nicht verharmlosen.“
Während Steinmeier dies sagt, sitzen sechs Menschen auf Lederstühlen um ihn herum, der Chef der Bundesärztekammer und eine Arzthelferin aus Paderborn, eine Einsatzleiterin der Berliner Polizei und ein evangelischer Pfarrer aus Bautzen, der Präsident des Deutschen Städtetages aus Münster – und André Neumann, CDU, der Oberbürgermeister von Altenburg.
Sie sind eingeladen, um über Hass und Gewalt in Zeiten der Pandemie zu reden. Das Format ist nicht als Streitgespräch angelegt, sondern als Selbstvergewisserung gegenüber den Menschen, die sich etwa an Montagen auf den deutschen und auch den Thüringer Straßen äußern. Es geht, wie Steinmeier sagen wird, nachdem er sich zu den anderen gesetzt hat, um „die gegenseitige Ermutigung“.
Doch ermutigend ist das, was der Oberbürgermeister aus dem Ostthüringischen dem Präsidenten erzählt, nicht unbedingt. „Das Problem ging mit der Flüchtlingskrise los“, sagt er.
Neumann meint die Drohungen, die er auf vielen, vor allem digitalen Kanälen erhält. „Es wird immer vom Tag X gesprochen, also dass man mit Familie am Tag X auf dem Marktplatz gehängt werde. Und das bekommt eine Familie mit.“Dazu werde in Telegram-Gruppen Material gegen ihn gesammelt, Mitteilungen, Postings im Internet, für den späteren Prozess gegen ihn.
Es gebe Freunde, sagt er, die sagten ihm, das gehöre halt irgendwie zu dem Job. Ihnen antworte er: „Nein, das gehört nicht dazu!“
Natürlich hat sich das Bundespräsidialamt etwas dabei gedacht, Neumann als Repräsentanten der Lokalpolitik einzuladen. Auf die Bevölkerung gerechnet, nehmen fast nirgendwo so viel Menschen an den zumeist unangemeldeten Protesten gegen die Corona-Politik teil wie im Osten Thüringens.
Und kaum ein Lokalpolitiker exponiert sich so sichtbar und durchaus streitbar dagegen wie er. Das hat Folgen. So erzählt der Oberbürgermeister
davon, wie zuletzt der montägliche Zug vor dem Privathaus seines parteilosen Amtskollegen Julian Vonarb in Gera lärmte. Dies sei in Altenburg ähnlich, zumal er in der Innenstadt wohne.
Da gebe es zumeist drei Rundgänge ums Haus, sagt er -- und „dreimal Klingelputzen“. Der sechsjährige Sohn frage dann schon mal: Kommen die hoch, was machen die? „Es ist eine klare Bedrohung der Familie“, sagt der Oberbürgermeister.
Und diese Bedrohung geht für ihn nicht nur von einer kleinen Minderheit aus. Es werde immer davon geredet, dass die Spaziergänger nur ein Prozent der Bevölkerung seien. „Ich spüre das anders“, sagt Neumann. Auch bei Geimpften und bei Menschen, die Maske trügen und hinter vielen Maßnahmen stünden, wachse der Frust, „den sie in jeder Hinsicht rauslassen“.
Mittlerweile, klagt Neumann, wisse er nicht mehr, wer in den Ämtern „auf uns folgen soll“. Wer tue sich das noch an? Vielleicht gebe es in einigen ostdeutschen Kommunen demnächst bloß AfD-Kandidaten zur Auswahl, weil sich andere nicht mehr trauten.
Auch die anderen in der Runde berichten von dem Ärger, der sich nach bald zwei Jahren Pandemie ein Ventil sucht. Dass es ständig verletzte Kollegen gebe, das sei inzwischen normal, „wohl wissend, dass es nicht normal ist“, sagt die Polizeibeamtin Undine Weihe.
Der sächsische Pastor Christian Tiede erzählt wiederum von dem ohnmächtigen Gefühl, „man ist allein, man kann nichts dagegen tun“. Am stärksten bedrücke ihn die „perfide Referenz“auf die Zeit von 1989.
„Die Leute sind alle am Limit“, sagt auch Arzthelferin Annette Knaup: die Mitarbeiter, die Ärzte, die Patienten. „Wir sind der Prellbock, wenn Impfstoff fehlt und die Regeln sich mal wieder ändern.“
Was tun? Der Pfarrer redet von Solidarität, erwähnt die Initiativen und Gegendemonstrationen an vielen Orten. „Wir brauchen überall in der Republik kleine Leuchttürme.“
Doch der Altenburger Oberbürgermeister fordert mehr. Es müsse stärker gegen die Netzwerke vorgegangen werden, die Gewaltaufrufe verbreiteten. Und er will Schutz: „Wir fühlen nicht, dass diese Bedrohungslage ernst genommen wird und dass dagegen gehandelt wird.“
„Die Versammlungsfreiheit gilt. Doch die rote Linie verläuft da, wo Gewalt entstehen kann.“Frank-Walter Steinmeier Bundespräsident