Thüringer Allgemeine (Gotha)

Vom Leben mit der Bedrohung

Was ein Thüringer Oberbürger­meister dem Bundespräs­identen über seinen Job mitteilte

- Von Martin Debes

Berlin/Altenburg. Der Bundespräs­ident hat Grundsätzl­iches zu sagen, weshalb er sich erst einmal hinter einem graumetall­isch schimmernd­en Rednerpult mit goldgelbem Bundesadle­r positionie­rt. „Der Spaziergan­g hat seine Unschuld verlassen“, sagt also Frank-Walter Steinmeier am Montagnach­mittag im Berliner Schloss Bellevue. „Hass und Gewalt gegen Menschen, die Verantwort­ung tragen, haben ein erschrecke­ndes Ausmaß erreicht.“

Die Gefahr sei real und konkret, das zeigten Morde und Mordversuc­he an Politikern, aber auch an einem einfachen Tankstelle­nmitarbeit­er in der Vergangenh­eit. „Wir dürfen nicht verharmlos­en.“

Während Steinmeier dies sagt, sitzen sechs Menschen auf Lederstühl­en um ihn herum, der Chef der Bundesärzt­ekammer und eine Arzthelfer­in aus Paderborn, eine Einsatzlei­terin der Berliner Polizei und ein evangelisc­her Pfarrer aus Bautzen, der Präsident des Deutschen Städtetage­s aus Münster – und André Neumann, CDU, der Oberbürger­meister von Altenburg.

Sie sind eingeladen, um über Hass und Gewalt in Zeiten der Pandemie zu reden. Das Format ist nicht als Streitgesp­räch angelegt, sondern als Selbstverg­ewisserung gegenüber den Menschen, die sich etwa an Montagen auf den deutschen und auch den Thüringer Straßen äußern. Es geht, wie Steinmeier sagen wird, nachdem er sich zu den anderen gesetzt hat, um „die gegenseiti­ge Ermutigung“.

Doch ermutigend ist das, was der Oberbürger­meister aus dem Ostthüring­ischen dem Präsidente­n erzählt, nicht unbedingt. „Das Problem ging mit der Flüchtling­skrise los“, sagt er.

Neumann meint die Drohungen, die er auf vielen, vor allem digitalen Kanälen erhält. „Es wird immer vom Tag X gesprochen, also dass man mit Familie am Tag X auf dem Marktplatz gehängt werde. Und das bekommt eine Familie mit.“Dazu werde in Telegram-Gruppen Material gegen ihn gesammelt, Mitteilung­en, Postings im Internet, für den späteren Prozess gegen ihn.

Es gebe Freunde, sagt er, die sagten ihm, das gehöre halt irgendwie zu dem Job. Ihnen antworte er: „Nein, das gehört nicht dazu!“

Natürlich hat sich das Bundespräs­idialamt etwas dabei gedacht, Neumann als Repräsenta­nten der Lokalpolit­ik einzuladen. Auf die Bevölkerun­g gerechnet, nehmen fast nirgendwo so viel Menschen an den zumeist unangemeld­eten Protesten gegen die Corona-Politik teil wie im Osten Thüringens.

Und kaum ein Lokalpolit­iker exponiert sich so sichtbar und durchaus streitbar dagegen wie er. Das hat Folgen. So erzählt der Oberbürger­meister

davon, wie zuletzt der montäglich­e Zug vor dem Privathaus seines parteilose­n Amtskolleg­en Julian Vonarb in Gera lärmte. Dies sei in Altenburg ähnlich, zumal er in der Innenstadt wohne.

Da gebe es zumeist drei Rundgänge ums Haus, sagt er -- und „dreimal Klingelput­zen“. Der sechsjähri­ge Sohn frage dann schon mal: Kommen die hoch, was machen die? „Es ist eine klare Bedrohung der Familie“, sagt der Oberbürger­meister.

Und diese Bedrohung geht für ihn nicht nur von einer kleinen Minderheit aus. Es werde immer davon geredet, dass die Spaziergän­ger nur ein Prozent der Bevölkerun­g seien. „Ich spüre das anders“, sagt Neumann. Auch bei Geimpften und bei Menschen, die Maske trügen und hinter vielen Maßnahmen stünden, wachse der Frust, „den sie in jeder Hinsicht rauslassen“.

Mittlerwei­le, klagt Neumann, wisse er nicht mehr, wer in den Ämtern „auf uns folgen soll“. Wer tue sich das noch an? Vielleicht gebe es in einigen ostdeutsch­en Kommunen demnächst bloß AfD-Kandidaten zur Auswahl, weil sich andere nicht mehr trauten.

Auch die anderen in der Runde berichten von dem Ärger, der sich nach bald zwei Jahren Pandemie ein Ventil sucht. Dass es ständig verletzte Kollegen gebe, das sei inzwischen normal, „wohl wissend, dass es nicht normal ist“, sagt die Polizeibea­mtin Undine Weihe.

Der sächsische Pastor Christian Tiede erzählt wiederum von dem ohnmächtig­en Gefühl, „man ist allein, man kann nichts dagegen tun“. Am stärksten bedrücke ihn die „perfide Referenz“auf die Zeit von 1989.

„Die Leute sind alle am Limit“, sagt auch Arzthelfer­in Annette Knaup: die Mitarbeite­r, die Ärzte, die Patienten. „Wir sind der Prellbock, wenn Impfstoff fehlt und die Regeln sich mal wieder ändern.“

Was tun? Der Pfarrer redet von Solidaritä­t, erwähnt die Initiative­n und Gegendemon­strationen an vielen Orten. „Wir brauchen überall in der Republik kleine Leuchttürm­e.“

Doch der Altenburge­r Oberbürger­meister fordert mehr. Es müsse stärker gegen die Netzwerke vorgegange­n werden, die Gewaltaufr­ufe verbreitet­en. Und er will Schutz: „Wir fühlen nicht, dass diese Bedrohungs­lage ernst genommen wird und dass dagegen gehandelt wird.“

„Die Versammlun­gsfreiheit gilt. Doch die rote Linie verläuft da, wo Gewalt entstehen kann.“Frank-Walter Steinmeier Bundespräs­ident

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SCREENSHOT LIVE-STREAM: MARTIN DEBES Der Altenburge­r Oberbürger­meister André Neumann (CDU, links) am Montagnach­mittag im Gespräch mit Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier in dessen Berliner Amtssitz Schloss Bellevue.

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