Jetzt droht der Blindflug in der Pandemie
PCR-Tests für bestimmte Gruppen, reduzierte Kontaktverfolgung: Omikron überfordert das Land zunehmend
Berlin. Angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen haben Bund und Länder neue Regeln für Corona-Tests beschlossen: Die verlässlichen PCR-Labortests sollen vorrangig bestimmten Berufs- und Bevölkerungsgruppen zur Verfügung stehen. Auch bei der Kontaktnachverfolgung sollen sich die Gesundheitsämter nur noch auf bestimmte Fälle konzentrieren. Für den großen Teil der Bevölkerung heißt das, in den kommenden Wochen auf Schnelltests und Eigenverantwortung zu setzen.
Tests: In Deutschland reichen die Kapazitäten nicht mehr aus, um in der sich weiter auftürmenden Omikron-Welle jeden durch Schnelltest entdeckten Verdachtsfall durch einen Labortest zu bestätigen. Die PCR-Tests sollen daher vor allem für Patienten in Krankenhäusern, für Bewohner von Pflegeheimen, das dortige Personal, für die Beschäftigten in Praxen sowie für Personen mit dem Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs zur Verfügung stehen (siehe Text unten).
Diese Schwachstelle sorgt für Kritik. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) rief zur raschen Ausweitung der Testkapazitäten auf. „Alle Bürger müssen bei Corona-Verdacht oder -Infektion, aber auch nach überstandener CoronaInfektion die Möglichkeit haben, durch einen PCR-Test Gewissheit zu bekommen“, sagte Brinkhaus unserer Redaktion. Auch LinkeFraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte die beschlossene Strategie scharf. Diese sei „kein Durchbruch zur wirksamen Bekämpfung der Pandemie, sondern ein einziges Kommunikationschaos“, sagte Bartsch unserer Redaktion. „Auf welcher Grundlage sollen Bürger jetzt in Quarantäne, die keinen Anspruch
auf einen PCR-Test haben?“
Datengenauigkeit: Die Priorisierung der PCR-Tests bedeutet aller Voraussicht nach, dass die Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) zur Inzidenz in den kommenden Wochen sehr ungenau sein werden, da nur noch ein Teil der Ansteckungen erfasst wird. In seinem letzten Wochenbericht räumte das RKI bereits ein, dass das maximale Ausmaß der Omikron-Welle „im Meldewesen voraussichtlich nicht exakt quantifiziert werden“könne. Im Datenblindflug sieht sich das RKI aber nicht. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigte sich zuversichtlich, dass der Überblick über das Infektionsgeschehen behalten werde.
Kontaktverfolgung: Bei der flächendeckenden Nachverfolgung von Kontakten Infizierter werden jetzt allerdings endgültig die Segel gestrichen. Auch hier sei eine Priorisierung „sinnvoll und notwendig“, heißt es nun. Vorrang sollen nun die Fälle haben, die mit Krankenhäusern, Pflege- und Behinderteneinrichtungen in Verbindung stehen. Die übrigen Bürger werden zum „verantwortlichen Umgang mit etwaigen Erkrankungen“aufgerufen.
Quarantäne: Schon bei der letzten Bund-Länder-Runde hatten Scholz und die Ministerpräsidenten die Quarantänevorschriften gelockert. Sowohl Kontaktpersonen als auch Infizierte dürfen seitdem ihre Wohnung nach sieben Tagen wieder verlassen, wenn sie mindestens zwei Tage symptomfrei sind und einen negativen Schnelltest gemacht haben. Dies gilt nun auch für die Beschäftigten in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Behinderteneinrichtungen, die bisher nach einer Infektion noch einen negativen PCR-Test vorlegen mussten, um die Isolation verlassen zu können.
Kurs halten: Die bestehenden Regeln zur Zugangs- und Kontaktbeschränkung gelten vorerst unverändert weiter. „Insgesamt gilt: Kurs halten“, sagte Scholz. Anfang Januar hatte man verschärfte Regeln für die Gastronomie beschlossen: Besuche sind nur noch für Geimpfte und Genesene erlaubt, die negativ getestet sind oder bereits eine Auffrischungsimpfung erhalten haben.
Impfkampagne: „Das Tempo hat nachgelassen“, räumte Scholz ein. Die Regierung werde daher ihre Impfkampagne intensivieren. Bund und Länder betonen, dass ausreichend Dosen der Impfstoffe von Moderna und Biontech zur Verfügung stünden. Diese seien sicher und millionenfach erprobt. Mit dem Impfstoff Novavax stehe ab Ende
Februar aber auch ein proteinbasiertes Vakzin zur Verfügung. Bund und Länder hoffen, dass sich damit Bürger impfen lassen, die den beiden neuartigen mRNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna skeptisch gegenüberstehen.
Impfpflicht: Das zuletzt von Scholz ausgegebene Ziel, bis Ende Januar 80 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal zu impfen, wird absehbar verfehlt. Am Montag hatten erst gut 75 Prozent mindestens eine Impfung erhalten. Vor diesem Hintergrund bekräftigen Scholz und die Länderchefs die Notwendigkeit der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht.
Kritik an Lauterbach: Die Länder nutzten das Treffen, um ihrem Ärger über Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Luft zu machen: Der hatte die Entscheidung des RKI verteidigt, die Dauer des Genesenenstatus von 180 auf 90 Tage zu verkürzen – ohne Vorwarnung und ohne Übergangszeit. Betroffene, die nicht zusätzlich geimpft waren, galten plötzlich offiziell als weder geimpft noch genesen. „Das hat viele Menschen überrascht und verunsichert“, kritisierte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) nach dem Corona-Gipfel.