„Armut ist nach wie vor ein Thema“
Die Aufgaben der seit 175 Jahren bestehenden Diakonie in Gotha erläutern Andrea Schwalbe und Thomas Gurski
Mechterstädt. Seit 175 Jahren gibt es diakonische Einrichtungen im Kreis Gotha. Vor welchen Herausforderungen sie heute stehen, das erläutern Andrea Schwalbe, Geschäftsführende Vorständin im Diakoniewerk Gotha, und Thomas Gurski, Vorstandsvorsitzender des Bodelschwingh-Hofs Mechterstädt.
Frau Schwalbe, Herr Gurski, die Diakonie im Kreis Gotha blickt auf 175-jähriges Bestehen. Sie gilt als ältester Verein im Landkreis. Inwieweit ist das verbrieft?
Schwalbe: Wir sind der drittälteste Verein in Thüringen. Das wissen wir vom Innenministerium.
Gurski: Wir werden im Stiftungsregister als altkonzessionierter Verein geführt, weil wir so alt sind.
Vor welchem Hintergrund geschah die Gründung am 1. Januar 1847 durch Johann Heise und Andreas Perthes als Arbeitsanstalt für Bedürftige?
Gurski: Es gab damals eine große Landflucht. Kinder, Jugendliche, Arbeitsuchende kamen in die Städte, wollten in Lohn und Brot kommen. Damit waren die Städte aber maßlos überfordert. Es ging darum, die größte Not zu lindern. Das war die Gründung der institutionellen Diakonie etwa durch Johann Heinrich Wichern als Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirche.
Wie zeitgemäß ist das Anliegen heute?
Schwalbe: Das Diakoniewerk befasst sich heute mit vergleichbaren Themen. Wir bieten Suppenküche, Kleiderkammer an. Wir beraten in sozialen Notlagen, unterstützen Menschen in großer Armut über einen Nothilfefonds, wenn sie zum Beispiel kein Päckchen Windeln mehr bezahlen können oder Medikamente benötigen. Die Aktualität ist wie gehabt.
Gurski: Das Diakoniewerk betreibt heute seiner Tradition folgend zum Beispiel die Begegnungsstätte Liora in Gotha.
Was stellt sich heute gegenüber der Gründungszeit anders dar? Schwalbe: Damals ging es um das nackte Überleben. Heute ist die soziale Absicherung deutlich besser. Sozial- und Rentenversicherung schützen vor existenziellen Notlagen wie vorm Verhungern. Trotzdem ist Armut nach wie vor ein Thema. Sozialhilfe wirkt auch ausgrenzend. Kinder aus sozial schwachen Familien fällt es schwer, in Konkurrenzsituationen mit anderen Kindern standzuhalten. Themen heute sind Zugang zu gleichen Bildungschancen, gleiche Karrieremöglichkeiten, dass sich Kinder gleichwertig entwickeln können.
Die Stadt Gotha hat kürzlich eine Obdachlosenunterkunft eingerichtet. Inwieweit ist das Diakoniewerk daran beteiligt?
Schwalbe: Mit unterstützender Beratung, etwa bei Wohnungsvermittlung, Schuldner- und Suchtberatung oder bei der Wiederbeschaffung von Papieren. Das ist ein Riesenproblem für Menschen, die auf der Straße leben. Nur wer sich ausweisen kann, erhält Geld. Einen Ausweis bekommen sie nur, wenn sie Geld haben.
Gurski: Der Landkreis Gotha hat die Leistung zur Betreibung des Obdachlosenheims ausgeschrieben. Nicht immer kommen wir bei Ausschreibungen von Leistungen zum Zuge.
Die Diakonie ist heute der größte Träger sozialer Einrichtungen im Kreis Gotha mit etwa 750 Mitarbeitern. Worauf führen Sie dieses Wachstum zurück?
Gurski: Wir sind kein Träger, der auf Wachstum setzt, sondern fühlen uns verantwortlich für die Region, für Menschen die Hilfe und Unterstützung brauchen, egal in welchen Lebenslagen. Aber auch für Angebote, die es ergänzend braucht, wie zum Beispiel Kindertagesstätten oder betreutes Jugendwohnen. Insbesondere fühlen wir uns verantwortlich für alle Menschen mit Handicaps, mit geistiger, psychischer, körperlicher Behinderung. Für diesen Personenkreis sind wir mit mehr als 600 Beschäftigten in Werkstätten auch der Hauptarbeitgeber. Das schließt Betreuung und Versorgung bei uns oder bei ihnen zu Hause ein. In der Häuslichkeit leben nach wie vor 60 Prozent bei zum Teil hochbetagten Angehörigen. Brechen die familiären Bezüge weg, fragen diese Menschen nach weiteren Hilfsangeboten. Darauf haben wir in den letzten Jahren mit entsprechenden Angeboten reagiert und unsere Dienstleistungen weiterentwickelt. Das ist historisch gewachsen. Behindertenarbeit und Altenpflege hat der Staat gerne kirchlichen Institutionen überlassen. Was die DDR nicht überlassen hat, war der Kinder- und Jugendbereich.
Schwalbe: Nicht zu vergessen. Nach dem Zusammenbruch der DDR und Umstrukturierung der volkseigenen Betriebe waren die geschützten Werkstätten übrig. Das ist der Anfang vom Wachstum des Bodelschwingh-Hofes.
Diakoniewerk Gotha und Bodelschwingh-Hof Mechterstädt firmieren heute unter einem Dach. Seit wann und aus welchem Grund? Gurski: Annäherungsversuche gibt es seit 20 Jahren. Die erste verbindliche Zusammenarbeit war die Übernahme der insolventen Pflegeheime in Waltershausen, des Altenzentrums Sarepta und des Pflegestifts Geizenberg 2004, die zu einem diakonischen Träger in Baden-Württemberg gehörten. Das war die Geburtsstunde der stationären Altenpflege.
Schwalbe: Für unseren Verbund gibt es vier Rechtsträger. Die Elternvereine Diakoniewerk und Bodelschwingh-Hof. Darunter firmieren Josias-Löffler-Diakoniewerk
GmbH im Bereiche Pflege und Senioren-Betreuung sowie die Diakoniewerk gGmbH in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesstätte, Beratungsdienste. Hinzu kommen die beiden Inklusionsbetriebe, der Dienstleister InDiGo mit dem Facility-Management und der Gläsernen Manufaktur, sowie das Augustinerkloster Gotha, das wir gemeinschaftlich mit der Stadtkirchgemeinde als GmbH betreiben.
Welchen Vorteil bringt diese Splittung?
Gurski: Das ist historisch gewachsen mit bestehenden Strukturen. Die enge Verzahnung findet auf der Ebene unserer Satzungen statt. Bis auf die historischen Bezüge sind sie fast identisch. Über das gesamte Gremium gibt es eine Klammer, den Aufsichtsrat. Wir sind eine NonProfit-Organisation. Gewinne werden satzungsgemäß eingesetzt.
Welche Entwicklungen erfüllen Sie mit Stolz?
Schwalbe: Unser Auftakt mit dem gemeinsamen Leitbild.
Gurski: Gerade in der Corona-Zeit haben wir gemerkt, wie tragfähig unser Verbund ist. Es gab in unseren Pflege- und Behindertenhilfe-Einrichtungen schwere Pandemie-Geschehen, wo fast alle Bewohner infiziert und ein Großteil der Mitarbeiter betroffen waren. Wir haben es ohne fremde Hilfe geschafft, unsere Dienstleitungen aufrechtzuerhalten. Die Kollegen aus dem Unternehmensverbund haben dazu mit großer Bereitschaft beigetragen.
Wie haben Sie die durch Corona auferlegten Belastungen bewältigt?
Schwalbe: Es war die (!) Herausforderung. Der Zusammenhalt ist die ganze Zeit gut gewesen.
Gurski: Mit dem ersten Lockdown hatten wir von dieser Stunde an einen zweiten Job: Corona-Verantwortliche. Das ist bis heute so. Das konnten wir nicht delegieren. Die Dienstgemeinschaft hat sich bewährt.
Was bedeutet
Gurski: Dienstgeber und Dienstnehmer agieren auf Augenhöhe, ohne
Dienstgemeinschaft? Gewerkschaft. Es gibt keine Unterstellung, sondern eine Dienstgemeinschaft in unterschiedlicher Funktion.
Und wie stellt sich das hinsichtlich der Entlohnung dar?
Schwalbe: Mehr geht immer. Soziale Arbeit, Pflege und Betreuung könnten generell besser bezahlt werden.
Gurski: Beim Vergleich der Tarife in der freien Wohlfahrtspflege spielen wir in der Oberliga. Eine Folge ist, dass wir bei Ausschreibungen von Leistungen nicht zum Zuge kommen, weil wir einen zu hohen Tarif haben.
Welche Herausforderung sehen Sie für die nächsten Jahre?
Schwalbe: Die Gewinnung von Fachkräften. Das spüren wir in der Pflege schon eine ganze Weile, zunehmend in der Behindertenhilfe, stationären Betreuung und Jugendhilfe.
Gurski: Dem lässt sich nur durch interkulturelle Öffnung, Zuwanderung begegnen.
Schwalbe: Das müssen wir nicht nur, das wollen wir. Wir haben seit 30 Jahren den Migrationsdienst und haben immer daran gearbeitet, Menschen mit Migrationshintergrund in unser Gefüge zu integrieren. Es wird in Zukunft darum gehen, Pflegekräfte gezielt anzuwerben, auszubilden und einzubinden.
Die Diakonie ist von Beginn ihrer Gründung an christlich geprägt. Wie offen sind Sie, auch Menschen ohne kirchliche Bindung oder mit muslimischen Wurzeln einzustellen?
Gurski: Dazu haben wir keine Widerstände. Wir sagen, wer und was wir sind, dass das, was wir machen, akzeptiert wird. Wir fordern die Toleranz ein, die wir auch anderen Kulturen gegenüber mitbringen. Ein Mitarbeiter sollte den Ablauf des Kirchenjahres kennen. Die Mitarbeitenden versuchen wir über Bildung mitzunehmen. Da gibt es sehr gute Erfahrungen. Hin und wieder passiert es, dass sich Mitarbeiter taufen lassen. Das geschieht ohne Zwang. Das überlassen wir der Kraft des Heiligen Geistes. Da gehört auch ein Stück Gebet und Zuversicht dazu.
Können Sie sagen, wie und wann das Jubiläum 175 Jahre Diakonie im Landkreis Gotha gefeiert werden soll?
Schwalbe: Am 10. September mit einem diakonischen Stadtkirchentag gemeinsam mit der Stadtkirchgemeinde Gotha.
Gurski: Und der BodelschwinghHof-Verein wird sein 30-jähriges Bestehen am 12. Juni mit seinem Sommerfest feiern. – So es dann stattfinden kann.
Schwalbe: In Vorbereitung auf den Stadtkirchentag haben wir ein Kunstprojekt ausgeschrieben. Wir bitten Schulklassen, Konfirmandengruppen, Werkstätten und Seniorengruppen sich mit der Jahreslosung auseinanderzusetzen; Thema: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“