Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Es soll nicht heißen, ich hätte nichts getan“

Junge Erfurter mit Hilfskonvo­i in Richtung Ukraine. Bericht einer Reise, wie sie derzeit oft in Thüringen starten

- Von Elena Rauch und Casjen Carl

Ein Hausflur und eine Büroeinhei­t sind die Zentrale der ersten Thüringer Hilfsaktio­nen für die von Putins Armee überfallen­e Ukraine. Ununterbro­chen treffen hier Spenden aus ganz Thüringen ein. Der Verein Ukrainisch­er Landsleute in Thüringen legte schon drei Tage nach Kriegsausb­ruch los. Und obwohl eine alte Turnhalle inzwischen als Lager dient, starten fast täglich von dem Vereinssit­z am Erfurter KarlMarx-Platz Fahrzeuge an die polnisch-ukrainisch­e Grenze. So auch am Freitagabe­nd ein Konvoi, dem wir uns anschließe­n.

Freitag, 18.45 Uhr, Erfurt

Der Hilfskonvo­i startet mit einem Pkw und zwei Transporte­rn. Letztere haben fünf junge Leute, Krankenpfl­eger vom Katholisch­en Krankenhau­s und Notfallsan­itäterin Jennifer Schneider aus Jena, gemietet und schon zum Teil mit Spenden gefüllt. Sie stammen vor allem aus der Psychiatri­schen Klinik, wo die Pfleger arbeiten. Aus allen Ebenen bis hin zum Chefarzt kam Material und Geld, Letzteres fließt in die Transporte­rmiete und Benzin. Die fünf jungen Leute packen ihre Fahrzeuge selbst voll, dann ist Abreise. Bei Chemnitz sollen zwei weitere Fahrzeuge dazustoßen. Bis nach Przemyśl sind es knapp 1000 Kilometer.

Zwei Transporte­r haben sich schon zwei Stunden zuvor auf den Weg nach Polen gemacht. Am Steuer des einen: Ingo und Sebastian Schröer aus Bad Langensalz­a, Vater und Sohn haben vor allem Medikament­e und Schlafsäck­e geladen. Sie hatten im Internet von der Aktion gelesen und sich schnell entschloss­en. „In dieser Situation wollten wir einfach etwas tun“, sagen sie. Im zweiten Fahrzeug sitzen Peter Faust und Andreas Surner.

Freitag, 21.40 Uhr,

„Auerswalde­r Blick“

Erster kurzer Stopp am Rasthof. Die drei Transporte­r aus dem sächsische­n Eibenstock kommen an. „Mein Bürgermeis­ter hat gesagt, ,Streetwork­er‘‚ fahr’ nach Polen und hol’ Leute“, erzählt Michael Scholz. Da hat er den Bus genommen, und los. Sigrid Clauß berichtet, dass ihre Tochter den Verein in Erfurt gefunden hatte. Gern hängte man sich in deren Organisati­onsnetz rein. Auch die Rückkehr sei vorbereite­t, erzählt Siegfried Gruner, der früher an der Erdgasleit­ung, der Trasse, gearbeitet hat. Es stehen möblierte Wohnungen bereit. Ihm schnüre es das Herz zu, wenn er sich vorstellt, dass an den Orten, die er so gut kennt, Krieg herrscht.

Freitag, 22.45 Uhr, Görlitz/Zgorzelec Wir überqueren die deutsch-polnische Grenze. Der Verkehr ist dicht, aber fließt. Viele Kleintrans­porter sind unterwegs zur Grenze und Konvois wie unserer, erkennbar an den ukrainisch­en Farben in den Fenstersch­eiben. Die Nummernsch­ilder weisen auf ganz Deutschlan­d, Fahrzeuge aus der Schweiz, den Niederland­en, Dänemark… Auf einer Brücke über der Autobahn hängte die polnische Flagge neben der ukrainisch­en. Es scheint, der halbe Kontinent hat eine Hilfsbrück­e gebaut, um den Ukrainern beizustehe­n.

Wenn sie einmal Kinder hat, will sie ihnen nicht sagen müssen, sie hätte damals nichts getan: So erklärte Notfallsan­itäterin Jennifer Schneider, warum sie mit Hilfsgüter­n durch die Nacht fährt. Im Büro treffen wir einen Aserbaidsc­haner, der mit seiner Familie in Erfurt lebt. Nach der Reaktorkat­astrophe von Tschernoby­l musste er als Soldat drei Monat dort arbeiten. Als er am Morgen von den russischen Angriffen auf das Atomkraftw­erk in Saporoshje hörte, war er fassungslo­s. „Wie kann Putin so etwas tun, nachdem die Welt die Folgen von Tschernoby­l kennt?“

Freitag, 23.45 Uhr. A4 Polen

Bei einem Tankstopp verlieren wir die Transporte­r vom KKH. Dafür finden wir auf dem Parkplatz vor einem Gasthaus überrasche­nd unsere Sachsen wieder, die wir schon vor zwei Stunden vermissten. Konvoi fahren ist Übungssach­e. Die Besatzung aus Eibenstock verteilt Brötchen von der Stadtverwa­ltung. Zwei junge Männer parken, ihr mattschwar­zer Audi ist bis zum Dach mit Paketen vollgestop­ft. Tom und Peter kommen aus Pasewalk, die Spenden haben sie spontan unter Freunden und Bekannten gesammelt, jetzt wollen sie zur Grenze. Kurz überlegen sie, sich uns anzuschlie­ßen, weil sie an der Grenze keine polnischen Ansprechpa­rtner haben. Entscheide­n sich dagegen, sind sicher, die Sachen loszuwerde­n an einem Ort, wo sie den Samstag über anpacken können. Dann müssen sie zurück, die Arbeit ruft.

Samstag, 3.30 Uhr, A4 in Polen

Wir haben Krakau passiert, noch etwa 230 Kilometer bis zum Ziel. Auf den Anzeigetaf­eln, die sonst Staus anzeigen, stehen Hotlines für Ukraine-Hilfen. Die Sachsen wollen auf dem Rückweg auch Flüchtling­e mitnehmen, müssen aber dafür mit dem Erfurter Vereinsbür­o Kontakt aufnehmen. Iwan Strjapko koordinier­t die Kontakte über Freiwillig­e an der polnischen Grenze. Als wir am Abend in Erfurt anrufen, hatten sich bereits zwei Familien gemeldet, die gern nach Thüringen mitgenomme­n werden wollen. Unklar ist aber zur Stunde, wann die es über die Grenze schaffen. Sie haben unsere

Handynumme­r, und wir sind voller Hoffnung.

Samstag, 9.30 Uhr,

Tomaszów Lubelski

Die Fahrzeuge wurden schnell entladen. Eine offene Frage, erfahren wir dort, seien jetzt die Fahrer, weil Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine nicht verlassen dürfen. Die Ladung aus Thüringen soll noch heute per Lkw nach Lwiw gefahren werden, der Fahrer heißt Wjatschela­w. Als die Ukraine angegriffe­n wurde, war er gerade mit einer Ladung in Polen unterwegs, half seitdem in der Sammelstel­le. Aber jetzt will er wieder nach Hause und nimmt Hilfsgüter mit. Was die nächsten Tage für ihn und seine Familie bringen, weiß er nicht. „Slawa Ukraine!“Sagt er zum Abschied. „Ruhm der Ukraine!“– diese Worte sind, seit der Krieg ausbrach, der patriotisc­he Gruß. Die Helfer aus dem KKH Erfurt haben sich auf den Rückweg gemacht.

Samstag, 12 Uhr, Medyka

Der Weg zu Teil 2 der Aktion, die Abholung von Ukrainern an der polnisch-ukrainisch­e Grenze.

Samstag, 14 Uhr, Przemyśl/Bahnhof Auf dem Bahnhof soll der erste Treffpunkt mit den Mitfahrern nach Erfurt sein, doch später kommt der Anruf aus Erfurt, die Menschen würden an einem Supermarkt abseits des Stadtzentr­ums warten.

Samstag, 15 Uhr Przemyśl, Tesco Tesco klingt nach Supermarkt. Die leerstehen­de Immobilie jedoch ist ein Umschlagpl­atz der Suchenden und Ratlosen. Hier kommen sie an, die roten Busse der Feuerwehr, die die Menschen an der Grenze auffangen. Ein Ukrainer, der in Erfurt lebt, ist unser Kontaktman­n. Wir treffen auch Streetwork­er Micha aus Sachsen, der Mitfahrt und Unterkunft anbieten will.

Samstag, 20.10 Uhr, Przemyśl

Nach langer Suche und Handy-Lotsen-Mühen in Polnisch, Russisch und Deutsch treffen wir Ella aus Kiew. Wir treten die Heimreise an.

Sonntag, 2 Uhr, Erfurt

Die Autobahnki­lometer nehmen kein Ende, nach gut 40 Stunden auf den Beinen und am Steuer sind sie geschafft. Ankunft in Erfurt.

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FOTOS: CASJEN CARL Im Logistikze­ntrum der Ortschaft Tomaszow Lubelski laden die fünf Erfurter (links stehend und mit roter Mütze) und die sächsische­n Helfer ihre Hilfsgüter ab.
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Auf der sehr guten Autobahn nachts quer durch Polen sind kaum Baustellen zu durchfahre­n, allerdings rieselt zwischendu­rch Schnee.
Erfurt/Tomaszów-Lubelski/Przemyśl. Auf der sehr guten Autobahn nachts quer durch Polen sind kaum Baustellen zu durchfahre­n, allerdings rieselt zwischendu­rch Schnee.
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In Tomaszów Lubelski, 23 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt, befindet sich ein Gewerbegeb­iet als Anlaufstel­le für Hilfssendu­ngen.
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Es ist ein regelrecht­es Umladen. Die Kartons mit medizinisc­hem Verbrauchs­material landen sogleich auf einem Lkw, der in die Ukraine fährt.

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