„Kriegseintritt ist rote Linie“
Grüne Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt verteidigt Waffenlieferungen
Erfurt/Berlin. Katrin Göring-Eckardt (56) sitzt seit 1998 für die Thüringer Grünen im Bundestag und führte lange Jahre die Fraktion. Inzwischen ist sie wieder Vizepräsidentin des Parlaments. Wir sprachen mit ihr über den Ukraine-Krieg.
„Wir wollen europäische Rüstungsexporte an Diktaturen, menschenrechtsverachtende Regime und in Kriegsgebiete beenden“: Kennen Sie diesen Satz?
Aus unserem Wahlprogramm?
Richtig. Warum wurde dieses Versprechen gebrochen, oder genauer, in sein Gegenteil verkehrt?
Wir sind weiterhin gegen Rüstungsexporte an Diktaturen. Die Wirklichkeit verlangt aber auch, dass wir uns geschlossen für die Lieferung von Waffen in die Ukraine, in ein demokratisches Land, das völkerrechtswidrig von Russland angegriffen wird, aussprechen. Deutschland hat die Ukraine in der Vergangenheit zu oft alleingelassen und zudem geht es darum, unsere eigenen Werte in der Ukraine zu verteidigen und Frieden zu sichern. Etwas, was sich in dieser brutalen Form kaum jemand vorher vorgestellt hat. Wenn sich die Realität so dramatisch ändert, müssen auch wir uns dem stellen.
Bleibt Krieg nicht immer Krieg? Nein. Hier verteidigt sich eine souveräne Nation mitten in Europa gegen einen völkerrechtswidrigen Angriff. Und sie verteidigt Europas Werte. Das ist eine Situation, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr hatten. Wer Friedenspartei sein will, muss auch bereit sein, aktiv Frieden zu sichern.
Es gibt aber Menschen, die nun den Dritten Weltkrieg befürchten, auch deshalb, weil Deutschland Waffen liefert. Teilen Sie diese Ängste vor einem nuklearen Inferno nicht?
Ich verstehe Angst und Sorgen. Als ich den von Alice Schwarzer publizierten Offenen Brief las, dachte ich: Das sind Stimmen, die sagen, lasst uns bitte mit dem Krieg in Ruhe...
. . . und zieht uns nicht hinein. Verstehen Sie das nicht, als Grüne? Natürlich verstehe ich eine ehrliche pazifistische Grundhaltung, die sich für Gewaltfreiheit einsetzt. Ich komme aus der kirchlichen DDRFriedensbewegung. Und natürlich bin ich für Verhandlungen. Was aber viele Kritiker der Waffenlieferungen in ihrer Egozentrik ignorieren: Die Ukrainer selbst wollen doch verhandeln und Kompromisse
eingehen, das haben sie deutlich gesagt. Sie sind dabei aber zu Recht nicht bereit, ihr Land, ihre Identität und sich selbst aufzugeben. Doch genau dies verlangen die Briefschreiber von der Ukraine.
Aber gibt es gar keine rote Linie? Jetzt werden Panzer geliefert, folgen als nächstes Kampfflugzeuge? Die rote Linie ist der direkte Kriegseintritt der Nato. Den fordert niemand. Waffenlieferungen hingegen überschreiten die Linie völkerrechtlich nicht. Entscheidend ist, was die Ukraine braucht – und was wir liefern können, aus deutschen Beständen oder über den Ringtausch mit unseren Partnern. Die Ukraine muss auf unsere Solidarität vertrauen können.
Was nicht immer einfach ist, und zwar auf beiden Seiten. Der Kanzler sagt: Solange die Ukraine den Bundespräsidenten auslädt, kann ich nicht nach Kiew fahren. Einverstanden?
Der Bundespräsident ist nicht generell ausgeladen worden, das hat die Ukraine inzwischen klargestellt. Deshalb würde ich mir sehr wünschen, dass Olaf Scholz und FrankWalter Steinmeier beide in die Ukraine fahren. Das wäre ein gutes und richtiges Signal, für beide Seiten. Vertrauen hat auch damit zu tun, wie und auf welcher Ebene wir miteinander reden.
Wäre die Reise auch ein Signal, dass die Ukraine in die Europäische Union gehört?
Die Ukraine gehört zur europäischen Familie. Die deutsche Bundesregierung sollte der Ukraine helfen, dass sie die formalen Kriterien für den EU-Beitritt erfüllen kann. Die nötigen Beitrittsverhandlungen dürfen auf keinen Fall auf die lange Bank geschoben werden, sondern sollten baldmöglichst beginnen.
Im EU-Vertrag steht: Bei einem bewaffneten Angriff auf einen Mitgliedsstaat „schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“. Liefe eine rasche Aufnahme der Ukraine nicht auf den Kriegseintritt der EU hinaus?
Nein, ein Beitritt wird ja nicht von heute auf morgen umgesetzt werden, das ist ein jahrelanger Prozess. Die Ukraine war und ist ein integraler Teil Europas: Die Ukraine sollte schnellstmöglich den Kandidatenstatus erhalten und sobald die formalen Kriterien erfüllt sind, auch offiziell zur EU gehören. Wir müssen mit der Ukraine eine echte, robuste, wirtschaftliche sowie politische Partnerschaft auf Augenhöhe eingehen und so ihre Stabilität auch in der Zukunft sichern.