Was hat Putin bisher erreicht?
Es sollte ein Blitz-Sieg werden, doch der russische Vormarsch ist ins Stocken geraten. Das hat Folgen für den 9. Mai
Brüssel/Berlin. Gut zwei Wochen nach Beginn der Großoffensive in der Ostukraine nimmt Russland jetzt zunehmend Waffenlieferungen des Westens ins Visier. Mit massiven Raketenangriffen auch von UBooten im Schwarzen Meer versuchen die russischen Streitkräfte, Eisenbahnstationen und Depots in der Ukraine zu zerstören – über diese Ziele würden westliche Waffen und Munition in den Donbass geliefert, erklärt das Verteidigungsministerium in Moskau. Minister Sergej Shoigu drohte mit weiteren solcher Attacken in der Ukraine: „Wir sehen jeden Transport der Nato in diesem Land als Ziel, das zerstört werden muss.“
Für Russland ist es ein Wettlauf mit der Zeit: Die Offensive in der Ostukraine kommt langsamer voran als gedacht – aber je länger der Feldzug dauert, desto mehr vom Westen gelieferte Waffen hat die Ukraine zur Verfügung, um sich gegen die Angreifer zu verteidigen. Der ukrainische Geheimdienst erwartet deshalb eine neue Eskalationsstufe am 9. Mai: Ruft der russische Präsident dann den Krieg auch gegen den Westen aus?
Das hat Russland bislang erreicht: Die Berliner Sicherheitsexpertin Claudia Major fasst die Lage so zusammen: „Da ist relativ wenig Bewegung drin.“Eigentlich will die russische Armee mit der „zweiten Phase“des Krieges die völlige Kontrolle über den Donbass erreichen und zugleich einen Landkorridor von Russland zur Krim schaffen. Schätzungsweise 80.000 bis 90.000 Soldaten sind im Einsatz. Daneben soll Mariupol endgültig besetzt, die Stadt Charkiw erobert werden. Aber ein Durchbruch ist nicht erkennbar, eher Stillstand: Begleitet von starkem Artillerieeinsatz rückten Panzer in mehreren, parallelen Zügen vor – sehr, sehr langsam, aber auf breiterer Front, was entsprechend Zeit koste. Im US-Verteidigungsministerium ist von „minimalen Fortschritten“der Angreifer die Rede. Die Probleme sind offenkundig: Für eine Offensive benötigt der Angreifer eine Überlegenheit der Kräfte von drei zu eins – die russische Armee bringt es in der Ostukraine bislang aber nur auf zwei zu eins.
Dass sich Generalstabschef Walerij Gerassimow genötigt sah, persönlich die Front bei Isjum im Nordosten zu inspizieren, und dabei beinahe durch einen ukrainischen Raketenangriff getötet worden wäre, ist ein Hinweis auf anhaltende Probleme in der Truppe. Dennoch warnen Militärbeobachter vor Missverständnissen: „Der Westen hat die Stärke der russischen Streitkräfte überschätzt. Wir dürfen jetzt aber nicht den nächsten Fehler machen und das russische Militär unterschätzen“, sagt András Rácz,
Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), unserer Redaktion. „Sie werden aus den Fehlern lernen.“
Nach US-Geheimdienstberichten plant Putin die Annexion der kompletten Gebiete von Luhansk und Donezk bis Mitte Mai. Gedacht ist dann wohl auch daran, eine „Volksrepublik Cherson“auszurufen; ein dort geplantes Referendum ist offenbar wegen des Widerstands in der Bevölkerung vertagt worden.
So verteidigt sich die Ukraine: Bislang kann sich die ukrainische Armee im Donbass nicht nur verteidigen. Ihr sind im Nordosten auch kleinere Gegenoffensiven gelungen. Zunehmend treffen aus dem Westen schwere Waffen wie Haubitzen und erste Panzer im Kriegsgebiet ein. Die so verstärkten Offensivfähigkeiten werden durch zunehmend aktuelle US-Geheimdienstinformationen über russische Ziele unterstützt. Den Vorteil beschreibt der frühere Nato-General Hans-Lothar Domröse im Gespräch mit unserer Redaktion so: „Die Russen walzen mit großem Einsatz alles platt und nehmen dafür auch viele Opfer in Kauf. Die ukrainischen Streitkräfte haben von den USA das Prinzip der aufklärungsbasierten Einsätze übernommen: Zunächst sehr intensive Aufklärung – und dann greift man nur dort konzentriert und entschlossen an, wo der Gegner ein gutes Ziel bietet, um sich anschließend wieder zurückzuziehen.“In Kiew wächst die Zuversicht. Der Chef des ukrainischen Geheimdienstes, Kirill Budanow, verbreitet Sieges-Parolen: Entweder werde Putin aus dem Amt gejagt oder Russland werde „in drei oder mehr Teile“zerfallen. Der Militärexperte Gustav Gressel sagt: „Die Ukraine hat die Chance, den Krieg nicht zu verlieren.“
Was passiert am 9. Mai? Für eine große Siegesfeier am jährlichen „Tag des Sieges“über Nazi-Deutschland reichen die militärischen Erfolge Russlands kaum aus. Zunehmend gibt es Spekulationen, dass Putin am 9. Mai offiziell den Krieg ausrufen wird, um mit einer Mobilmachung weitere Zehntausende Soldaten zu rekrutieren. Doch werde Putin nicht von einem Krieg mit der Ukraine sprechen – stattdessen werde er verkünden, dass sich Russland im Krieg mit dem Westen befinde.