Thüringer Allgemeine (Gotha)

Mehr Flüchtling­e als gedacht

Neue Bamf-Statistik zeigt, wie viele Ukrainer tatsächlic­h nach Deutschlan­d geflohen sind

- Von Christian Unger

Berlin. Es ist ein Exodus, den die Welt erlebt. Jetzt, nach mehr als zwei Monaten Krieg in der Ukraine, zählen die Vereinten Nationen fast sechs Millionen Menschen, die aus dem Land geflohen sind. Die meisten davon in die EU, vor allem nach Polen, Rumänien und Ungarn. Aber auch hierher, nach Deutschlan­d.

Bisher veröffentl­icht die Bundespoli­zei regelmäßig Zahlen über registrier­te Geflüchtet­e aus der Ukraine, zuletzt lagen die Angaben bei gut 400.000 Menschen. Neue Statistike­n aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf), die unserer Redaktion vorliegen, belegen, dass offenbar noch mehr Ukrainerin­nen und Ukrainer nach Deutschlan­d geflohen sind: Seit Kriegsbegi­nn am 24. Februar bis Ende April sind demnach bislang 610.103 Menschen neu im Ausländerz­entralregi­ster (AZR) erfasst worden. Davon sind 600.168 ukrainisch­e Staatsange­hörige – das entspricht 98,4 Prozent. Nur ein sehr kleiner Anteil der Flüchtling­e aus der Ukraine kommt demnach ursprüngli­ch aus anderen Teilen der Welt, etwa Afrika, Asien oder Nahost, und musste mit Beginn der russischen Invasion aus dem Land Richtung Westen fliehen.

Zahlen liegen nun auch zu Geschlecht und Alter vor: Insgesamt rund 69 Prozent sind demnach Mädchen und Frauen und 31 Prozent Jungen und Männer. Unter den Erwachsene­n beträgt der Anteil der Frauen sogar gut 80 Prozent. Auch viele Kinder und Jugendlich­e unter 18 Jahren sind hierhergef­lohen: insgesamt 241.769. Das sind fast 40 Prozent.

Zu wissen, wie viele Menschen nach Deutschlan­d geflohen sind, ist wichtig: Wenn der Staat verlässlic­he Statistike­n hat, lassen sich Unterbring­ung und Versorgung besser steuern. Noch entscheide­nder ist: Schulunter­richt für Kinder und Jugendlich­e, Integratio­nskurse für Erwachsene, Versorgung von älteren Geflüchtet­en, Therapiepl­ätze für Traumatisi­erte.

Doch das genaue Erfassen ist für die deutschen Behörden nicht einfach. Wer vor den Kämpfen aus der Ukraine flieht, kann legal nach Deutschlan­d einreisen – und erst mal hierbleibe­n: Eine Ausnahmere­gel erlaubt den Schutz auch ohne Aufenthalt­stitel. An den EU-Grenzen gibt es ohnehin keine festen, stationäre­n Kontrollen. Die Bundespoli­zei prüft die Fluchtwege in Bussen und Bahnen etwa aus Polen zwar vermehrt, doch viele Ukrainerin­nen und Ukrainer kamen zunächst ohne Registrier­ung etwa in Berlin, Hamburg oder Hannover an. Die nun vorliegend­en neuen Statistike­n im Ausländerz­entralregi­ster stammen unter anderem von den Ausländerb­ehörden, der Polizei oder Meldebehör­den vor Ort in den Ländern und Kommunen. Der Bund unterstütz­t die Anlaufstel­len für Geflüchtet­e in Ländern und Kommunen nach eigenen Angaben mit 260 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn vom Bamf und 180 zusätzlich­en Registrier­ungsstatio­nen. Insgesamt stehen demnach 1141 Registrier­ungsstatio­nen bundesweit zum Einsatz bereit.

Tausende Ukrainer kehren in ihr Heimatland zurück

Das Bamf hat in den vergangene­n Wochen daran gearbeitet, diese Erfassunge­n auszuwerte­n, um ein besseres Bild von der Lage der UkraineFlü­chtlinge zu bekommen. Interessan­t ist etwa: Von den mehr als 240.000 geflohenen Kindern und Jugendlich­en sind die meisten im Grundschul­alter, also zwischen sechs und elf Jahre alt: gut 90.000.

Auch eine große Zahl an Älteren floh hierher: 44.211 Menschen über 64 Jahre haben die Behörden erfasst.

Trotzdem sind auch diese Statistike­n aus dem AZR mit Vorsicht zu genießen. So erfassen die Behörden nicht, wie viele Geflüchtet­e aus der Ukraine nach ihrer Registrier­ung in ein anderes europäisch­es Land weitergere­ist sind – nicht immer melden sich die Menschen ab, zeigt die Erfahrung der Behörden. Auch vermerkt das Bundesregi­ster nicht, wie viele Menschen aus der Ukraine bereits wieder zurückgeke­hrt sind. Laut Behörden könne es sich um eine „erhebliche Zahl“handeln. Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) sprach unlängst von täglich rund 20.000 Ukrainerin­nen und Ukrainern, die allein von Polen aus wieder in ihr Heimatland zurückkehr­en würden – trotz der Kriegshand­lungen, die vor allem den Osten des Landes betreffen. Auch die Zahl der neu ankommende­n Flüchtling­e war zuletzt in Deutschlan­d deutlich im Vergleich zum März gesunken. Möglich also, dass die tatsächlic­he Zahl der aktuell in Deutschlan­d lebenden Flüchtling­e unter dem Wert von gut 600.000 Personen liegt.

Auch ist nicht auszuschli­eßen, dass Flüchtling­e im AZR doppelt erfasst wurden. Bisher sind laut Statistik des Bamf rund 216.000 Personen „vollständi­g mit biometrisc­hen Merkmalen“registrier­t, also mit Fingerabdr­ücken und einem biometrisc­hen Passfoto. Von den anderen Ukrainern wurden bisher nur persönlich­e Daten erfasst, also Namen, Geburtsdat­en und Geburtsort. Das dürften vor allem Menschen sein, die etwa zuerst in einer Erstaufnah­meeinricht­ung untergekom­men sind, wo keine Technik zur Registrier­ung vor Ort war.

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FOTO: HANS CHRISTIAN PLAMBECK/LAIF Tausende Flüchtling­e aus der Ukraine nutzen den Berliner Hauptbahnh­of als Drehkreuz – die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder.
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FOTO: MICHAEL KAPPELER / DPA Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD).

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