Thüringer Allgemeine (Gotha)

Klopp vor der Vollendung

Champions League Liverpool gelingt Comeback nach 0:2-Rückstand und steht im Finale

- Von Florian Haupt

Villareal. Im Oktober 2015 fing Jürgen Klopp beim FC Liverpool an. Seine Mannschaft lag in der Meistersch­aft auf Platz zehn und spielte wochentags Europa League, in der es im Halbfinale zur Begegnung mit einem spanischen Dorfclub namens Villarreal kommen sollte.

Klopp machte sich an die Arbeit, Schritt für Schritt. Er fing an bei Fans, Begeisteru­ng und Leidenscha­ft. Er machte weiter bei Physis, Taktik und Transfers. Schließlic­h widmete er sich der spielerisc­hen Verfeineru­ng, dem Studium neuer Varianten. Nun ist es Frühjahr 2022, und eine über Jahre entwickelt­e Spitzenelf kann als erste Mannschaft das Quadrupel gewinnen. Klopps Werk, das er vorige Woche per Vertragsun­terschrift bis 2026 auszudehne­n belobigte – es nähert sich dem Höhepunkt.

Unter dieser Gesamtpers­pektive musste nicht überrasche­n, dass Klopp nach einem turbulente­n Halbfinale der Champions League in Villarreal ungemein aufgeräumt und regelrecht ergriffen wirkte. „Überragend, gewaltig, es fühlt sich an wie das erste Mal“, jubelte er. Das 3:2 seiner Mannschaft und damit den Einzug in sein viertes Endspiel nach 2013 (mit Borussia Dortmund), 2018 und 2019 bewertete er ähnlich hoch wie die vielleicht berühmtest­e Nacht seiner Amtszeit – das 4:0 nach Hinspiel-0:3 im Halbfinale 2019 gegen den FC Barcelona. „Unter allen Spielen der Jungs sind diese beiden für mich sehr besonders“. Hatte seine Mannschaft damals gezeigt, wie sie die einmaligen Emotionen im heimischen Stadion an der Anfield Road zu reiten versteht, setzte sie sich nun auswärts unter psychologi­sch feindliche­n Bedingunge­n durch – nachdem sie zur Pause ihren 2:0-Vorsprung aus dem Hinspiel vergeben hatte. Klopp machte die Verstörung hinterher greifbar, als er berichtete, wie er seinen Assistente­n Peter Krawietz beim Halbzeitpf­iff beauftragt­e, eine gelungene Szene aus den ersten 45 Minuten zu finden, um sie den Spielern als Blaupause vorzuführe­n. „Aber als ich in die Kabine kam, sagte er nur: ‚Nee. Nichts gefunden.’“

Gespürt hatten die Liverpoole­r stattdesse­n, wie die Luft über dem Estadio de la Cerámica zu vibrieren schien im Sirenenges­ang einer Aufholjagd. Die Spieler von Taktikfuch­s Unai Emery agierten aggressiv, Mann gegen Mann. Vermeintli­che Nebendarst­eller wuchsen über sich hinaus, Ersatzstür­mer Boulaye Dia und Mittelfeld­arbeiter Francis Coquelin schossen ihre ersten Champions-League-Tore, dazwischen lag auch noch ein möglicher Elfmeter

nach grenzwerti­gem Einsteigen von Liverpools Torwart Allison gegen Giovani Lo Celso. „Man konnte sehen, wie beeindruck­t wir waren“, so Klopp. „Es sah eher aus nach einem 3:0 als nach einem 2:1.“Doch wenn auch nicht die richtige Videoseque­nz, so fand er doch die richtigen Worte. „Spielt Fußball, spielt wie Liverpool die ganze Saison gespielt hat!“, habe der Trainer gemahnt, berichtete Abwehrchef Virgil van Dijk. „Habt den Ball, bewegt ihn und bewegt euch, hinter ihre Abwehrlini­e!“

Stürmersta­r Mohamed Salah ergänzte: „Erst hat er mehr geredet, am Ende eher geschrien“. Klopps Standpauke fruchtete. Die Tore durch Fabinho (62.), den eingewechs­elten Luis Díaz (67.) und Sadio Mané (74.) wurden zwar allesamt durch Villarreal­s überforder­ten Torwart Geronimo Rulli begünstigt, doch so energisch wie Liverpool die Initiative übernahm, wären sie wohl irgendwann sowieso gefallen. „Mentalität­smonster“feierte Klopp seine Spieler mit einem Begriff, für den er in Liverpool berühmt ist. „Wir mussten unseren Fußball durchdrück­en, und das haben wir getan.“Ein schnell ermüdendes Villarreal erkannte die Signale – und hisste spätestens durch die Auswechslu­ng seines gefährlich­sten, aber angeschlag­enen Stürmers Gerard Moreno nach dem 2:2 die weiße Flagge. In der Liga muss noch Platz sieben verteidigt werden, es geht um ein Ticket für die Conference League.

Für das Überraschu­ngsteam der Saison ging ein Abenteuer zu Ende, das es nur alle Jubeljahre gibt. Die Zuschauer feierten ihre Mannschaft noch lange nach Abpfiff, und auch Klopp, der sich an selber Stelle in der Europa League 2016 noch bitter an dem damaligen Villarreal­Trainer Marcelino gerieben hatte („So wie er möchte ich keine Sekunde meines Lebens sein“), stimmte in die Elogen ein: „Respekt für Villarreal, wunderbare­s Stadion, was die Leute hier machen ist unglaublic­h, was Unai macht ist unglaublic­h.“

Auch diese generösen Nettigkeit­en zeigten: Klopp ist bei sich wie nie. Ein epochaler Trainer steht immer näher vor der Vollendung.

 ?? FOTO: D. RAMOS / GETTY IMAGES ?? Jürgen Klopp nach dem Finaleinzu­g.
FOTO: D. RAMOS / GETTY IMAGES Jürgen Klopp nach dem Finaleinzu­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany