Beschmutzte Erinnerung
Jenaer Historiker über den 9. Mai, einen vereinnahmten Sieg und Putins Instrumentalisierung von Geschichte
Jena. Der Osteuropahistoriker Jörg Ganzenmüller hat eine Professur an der Universität Jena inne und ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar. Ein Gespräch über das Gedenken an das Kriegsende vor 77 Jahren in Zeiten des Krieges.
Professor Ganzenmüller, Putin zieht in seiner Kriegspropaganda gegen die Ukraine eine direkte Linie vom Kampf der sowjetischen Armee gegen den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg. Was wird jetzt mit unserem Gedenken an die Befreiung am 8. Mai 1945? Das steht vor großen Herausforderungen. Die Rote Armee war eine Vielvölkerarmee, nicht nur Russen auch Angehörige anderer Nationalitäten wie eben Ukrainer haben in ihren Reihen gekämpft und mussten enorme Opfer beklagen. Es war auch ein ukrainischer Kampf und ein ukrainischer Sieg, wir müssen dafür sorgen, dass die Erinnerung daran wach bleibt.
Die gesamte Ukraine war im Zweiten Weltkrieg von deutschen Besatzern okkupiert, mit brutalen Folgen. Mehr als acht Millionen Menschen starben. Mit Blick auf diesen Blutzoll hat der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk vor zwei Jahren von einem blinden Fleck in der deutschen Geschichtsschreibung gesprochen. Können Sie als Osteuropa-Historiker diesem Vorwurf folgen?
Ich sehe durchaus Fehlstellen in der deutschen Erinnerung, aber sie betreffen nicht nur die Ukraine. Die Kenntnisse über Opfer in Belarus oder auch in Russland sind genauso lückenhaft.
Putin hat schon vor Jahren, den 9. Mai 1945 als russischen Sieg annektiert. Wie hat das den deutschen Blick geprägt?
Putins Geschichtspolitik war hier auf zweierlei Weise sehr erfolgreich. In Russland selbst wuchs die Überzeugung, dass es beim „Großen Vaterländischen Krieg“vor allem um einen Überfall auf Russland, einen russischen Kampf und einen russischen Sieg handelt, der Sieg der Roten Armee wurde zu einem festen Bestandteil der russischen Nationalgeschichte. Und in Deutschland ist man dem weitgehend gefolgt.
Wie konnte diese Ausblendung passieren?
Man hat die Sowjetunion auch in früheren Zeiten oft als Russland wahrgenommen und den Vielvölkercharakter zu wenig gesehen. So ist man dieser russischen Umdeutung recht willfährig auf den Leim gegangen. Hinzu kommt, dass sich ehemalige Sowjetrepubliken zum Teil selbst von diesem Sieg distanziert haben. Die baltischen Staaten empfinden diesen Krieg nicht als ihren Krieg und ihren Sieg. Aus guten Gründen, das Baltikum wurde im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts ja zunächst Opfer einer sowjetischen Aggression. Auch der unabhängigen Ukraine fiel eine Neubewertung des Zweiten Weltkrieges nicht leicht. Es gab durchaus Versuche, den Krieg in eine ukrainische Nationalgeschichte einzuschreiben, aber das ging weniger bruchlos als in Russland. Zwar war ein Großteil der Ukrainer, die in diesem Krieg gekämpft haben, Soldaten der Roten Armee, aber es gab auch Kräfte, die im Namen einer nationalen Unabhängigkeit gegen die Rote Armee gekämpft haben.
Putin benutzt in seinem Narrativ von einer „Entnazifizierung“der Ukraine die Geschichte. Wie ordnen Sie das ein?
Es geht hier letztlich gar nicht um die Verhältnisse in der Ukraine. Putin bemüht ein altes Feindbild aus dem Zweiten Weltkrieg, mit dem er einen Krieg legitimiert, der eigentlich nicht zu legitimieren ist. Und er benutzt es, um die ukrainische demokratische Regierung zu stigmatisieren. Da knüpft er an gewisse Vorbehalte in Russland an, weil die ukrainischen Nationalisten im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen kooperiert haben. Mit der heutigen Situation in der Ukraine hat das allerdings gar nichts zu tun, es ist eine Instrumentalisierung von Geschichte.
Was entgegnet der Historiker? Zuallererst, dass die große Mehrheit der Ukrainer gegen die deutschen Besatzer gekämpft hat, Millionen Soldaten der Roten Armee waren Ukrainer. Zur Geschichte gehört auch, dass ein Teil der Westukraine 1939 infolge des Pakts zwischen Hitler und Stalin nach dem deutschen Überfall auf Polen Teil des sowjetischen Imperiums wurde.
Mit der Erfahrung, dass in diesen Gebieten die Rote Armee zunächst als Besatzer kam und stalinistische Säuberungen folgten.
Zu diesen historischen Erfahrungen der Ukrainer gehört auch das Trauma des Holodomor nur wenige Jahre zuvor, etwa vier Millionen Menschen verhungerten.
Diese von Stalin zu verantwortende Hungersnot sollte den Widerstand der Bauern gegen die Kollektivierung brechen, sie betraf auch Russland und Kasachstan. In der Ukraine ist sie in den vergangenen 30 Jahren allerdings zunehmend als Völkermord an den Ukrainern gedeutet worden. Im nationalen Gedächtnis spielt sie deshalb eine sehr große Rolle.
Aus gutem Grund wird davor gewarnt, Geschichte zu benutzen, um deutsche Verbrechen während der NS-Zeit zu relativieren. Wie dünn ist das Eis, wenn man auf die unterschiedlichen tragischen Erfahrungen der Ukrainer verweist?
Die Gewalterfahrungen der Ukrainer im Stalinismus und während der deutschen Besatzung haben unterschiedliche Ursachen und müssen in ihrem jeweiligen Zusammenhang betrachtet werden. Hier hilft nur Wissen, denn Geschichte ist komplex und bietet nicht immer einfache Antworten.
Wir brauchen mehr Wissen über die ukrainische Geschichte?
Auf jeden Fall. Wenn wir verstehen wollen, was heute passiert und nicht auf diverse Propagandalügen hereinfallen wollen wie die Vorstellung von einer geteilten Ukraine oder von einer Ukraine, die von Nationalisten beherrscht wird. Wir brauchen mehr Kenntnisse über dieses Land, das immer ein Zwischenraum zwischen Mittel- und Osteuropa war. Teile der westlichen Ukraine gehörten lange Zeit zu Polen und zur Habsburger Monarchie. Die zentrale und östliche Ukraine war sehr viel länger Teil des Russischen Reiches. Die ukrainische Nationalkultur vereinte stets diese unterschiedlichen Prägungen. Dieser Übergangsraum wird jetzt zerstört, indem Putin versucht, die Ukraine mit Gewalt zum Teil des eigenen Imperiums zu machen. Damit wird er das Gegenteil erreichen. Nie hat sich die Ukraine stärker gen Westen orientiert als jetzt. Auch in ihrem Zusammenhalt schmiedet dieser Krieg die Nation zusammen, und zwar als eine Nation jenseits des russischen Kulturraums.