Wahn, Wieland, Wokeness
Klassik-Stiftung startet ins Themenjahr. „Sprachexplosionen“lauern in Weimars Altstadt
Weimar. Mit einem Fest der Sprache an diesem Wochenende und gleich vier Sonderausstellungen startet die Klassik-Stiftung in ihr Themenjahr; anlässlich des 250. Jubiläums der Ankunft Christoph Martin Wielands in Weimar widmet sie es dem Phänomen Sprache: „Jedes Thema, das wir anfassen, gerät uns unter der Hand zu einem richtigen Knaller“, behauptet Präsidentin Ulrike Lorenz und nennt Sprache im Spannungsfeld von Poesie, Philosophie und Diplomatie im aktuellen Krisenkontext einen Kriegsschauplatz.
Darüber wird freilich zu debattieren sein – zum Beispiel am heutigen Freitag ab 10 Uhr im „Ideenlabor“mit Wladimir Kaminer, Jagoda Marinić und Jan-Philipp Reemtsma sowie in weiteren „Weimarer Kontroversen“den Sommer über. Zudem finden Passanten das Altstadt-Terrain zwischen den Dichterhäusern mit „Sprachsplittern“gespickt: Aufsteller mit Zitaten, die, „Sprachexplosionen“gleich, die kreative Kraft der Klassiker in sinnenmächtige Reflexionsübungen der Nachgeborenen wandeln sollen: „Wir schlafen sämmtlich auf Vulkanen“, warnte Goethe 1824 in seinen „Xenien“.
Der Vortritt indes gebührt dem wahren Stammvater der Deutschen Klassik: „Wieland! Weltgeist in Weimar“titelt die Schau im Goetheund Schiller-Archiv, und auch im Sprachlabor vor dem Stadtschloss, dem nachhaltig reaktivierten Altholzbunker des Vorjahres, treibt Wielandisches inspirierende Blüten: Mit Wortschöpfungen wie Gurgelabschneider, Gelegenheitshascher, Wolkenkuckucksburg oder Schmalbierprotokoll, die allesamt schier nichts mit der hehren Stiftung zu tun haben, darf dort jedermann handgreiflich basteln. Das Sprachlabor dient als Experimentierraum und zentraler Begegnungsort, und ein Caterer sorgt für Kaffee und Kuchen. Da weiß man, was man hat.
Die Klassik-Stiftung indes scheint das nicht mehr zu wissen, weiß dafür jedoch, was sie will: Sie möchte in den Dialog mit ihren Gästen eintreten, vor allem mit denen im Lebensalter unter 18 Jahren. Teilhabeorientierte Organisationsentwicklung heißt die Zeitgeistvokabel, um modisch populärkulturale Volten zu rechtfertigen; die Kulturstaatsministerin aus Berlin gibt dafür 1,3 Millionen Euro über drei Jahre her. Allein fürs Themenjahr Sprache stehen den Weimarern 920.000 Euro an Fördergeldern zur Verfügung.
App als moderne Hilfe zur Sprach-/Stadtraum-Navigation
Ein pralles Bündel an Events haben Lorenz und Mitstreiter präpariert; viele Veranstaltungen stehen eintrittsfrei offen. Der ultimative Tipp heißt: mit Öffis anreisen, im Sprachraum flanieren und sich per Smartphone und Weimar-App so spielend wie spielerisch durchs Angebot navigieren. So findet man (ab 7. Mai) auch mühelos zur Schau „Nietzsche – Weimar – DDR“im Nietzsche-Archiv oder in die Hauptausstellung „Neuspréch: Kunst widerspricht“im Schillermuseum.
Dort harren, von den Künstlern Simon Starke und Oliver Ross kuratiert, 15 Positionen zeitgenössischer Kunst, die sich mit Heutigem wie Hate Speech, Fake News und Wokeness befassen. Letzteres meint jene Achtsamkeit, diskriminierende Sprechweisen zu meiden – am besten ohne darüber in naiv-sprachpolizeilichen Wahn zu verfallen.
So rückt Aleen Solari in ihrer Installation „Hurensohn“– Aufschrift auf mehreren Getränkedosen – die Stadion-Sprechchöre gegen einen Hoffenheimer Fußball-Mäzen ins rechte martialische Licht, Andrea Tippel zeigt gemalte Bücherwände als dekorative Bildungsbürger-Reminiszenzen, und Peter Lynen kritisiert mit Großformaten die Wokeness-Kritik an Auguste Renoir als „altem weißen Mann“. Wie dankbar ist man dagegen Kyung-Hwa Choi-Ahoi für ihre konkret-poetische Collage. Ein Blatt konstatiert: „est. / Es ist. / Sein ist. / gibt es.“Da weiß man: Sprache braucht Muße.
www.klassik-stiftung.de