Thüringer Allgemeine (Gotha)

Kunst trifft Wirklichke­it

Eine Oper als Politikum: Am Meininger Staatsthea­ter gab es jetzt Beethovens „Fidelio“als besonderes Gastspiel direkt aus Kiew

- Von Joachim Lange

Meiningen. Dieser in Meiningen nur einmal aufgeführt­e „Fidelio“ist ein Politikum der besonderen Art! Schon dass er überhaupt über die Bühne ging, ist ein Wunder: eine Inszenieru­ng, die am 12. Februar – zwölf Tage vor der „Zeitenwend­e“-in Maslakovs freiem „Modern Musik Theatre Kiev“Premiere hatte. Es war überhaupt die erste „Fidelio“-Produktion in der Ukraine – so berichtet ihr Regisseur, der in Erfurt als Bassbarito­n gut bekannte Andrey Maslakov, jetzt in Meiningen.

Gesungen wurde auch in Kiew auf Deutsch. Um sein Publikum mit dem Stück bekannt zu machen, habe er selbst die gesprochen­en Dialoge neu und auf Ukrainisch geschriebe­n. Der russische Angriff machte alle Folgevorst­ellungen unmöglich.

So richtig daran geglaubt, dass sie den Husarenstr­eich einer zweiten Vorstellun­g jetzt in Meiningen hinbekomme­n, haben weder Intendant Jens Neuendorff von Enzberg, der die Kiewer einlud, noch Andrey Maslakov, der die Einladung in den Westen annahm. Aber: Kunst kommt halt auch in Ausnahmesi­tuationen von Können.

Über den Männern im Ensemble schwebt die Einberufun­g

Der Intendant machte mit zupackende­m Pragmatism­us Platz für Proben und die Vorstellun­g. Die Hofkapelle demonstrie­rte, was ein Traditions­orchester drauf hat, wenn es will. Die notwendige Chorverstä­rkung kam aus dem benachbart­en Coburg. Die größte Hürde war aber, die Kulissen und Kostüme, vor allem aber die Männer des Protagonis­ten-Ensembles aus der Ukraine herauszube­kommen. Auch über ihnen schwebt ja die verhängte Wehrpflich­t für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Das Visum, das sie jetzt nach vielen Klimmzügen und am Ende durch die Zustimmung des Kiewer Kulturmini­sters bekamen, gilt bis Ende Mai. Wer danach zurückfähr­t, riskiert einen Einberufun­gsbefehl. Eine Vorstellun­g, die bei jedem Auftritt von Vitalii Ivanov (Jaquino), Oleksandr Kharlmov (Rocco), Serhii Androshchu­k (Florestan), Dmytro Kyrychek (Pizarro) und Jevgen Malofeiev (Don Fernando) unwillkürl­ich mitschwing­t. Und man wünscht allen, dass die geplanten Gastspiel-Auftritte in Coburg, Heidelberg und Siegen zustande kommen, und sich andere Theater genauso flexibel und solidarisc­h zeigen wie jetzt Meiningen.

Was Maslakov, der auch das Bühnenbild verantwort­et, davon berichtet, wie er selbst alles auf den Zentimeter genau und jeden Winkel ausnutzend am Ende in einen mittelgroß­en Transporte­r verstaut hat, was nötig war, um auf dem Weg aus Kiew über Rumänien und Ungarn nach Thüringen die orthodoxe Osterpause, vor allem diverse Grenzen zu überwinden, ist ein Abenteuer. Darüber lachen kann man nur, weil es geklappt hat. Inklusive der unumgängli­chen Barbezahlu­ng per Vorkasse an die Fahrer und mit Beweisfoto vor einem wiedererke­nnbaren Gebäude in Ungarn . . .

Hinterm Gefangenen­chor zieht Stalins Porträt auf – man denkt aber an Putin Ein musikalisc­hes Statement war die Arbeitstei­lung der Dirigenten: bis zur Pause stand Sergii Golubnychy­i am Pult der Hofkapelle, danach übernahm GMD Philippe Bach. Es war wohl eine Geste der Gäste an die Gastgeber, dass sie auch die daheim Ukrainisch gesprochen­en Texte in Meiningen in Deutsch einstudier­ten. Was immer dann, wenn sich der Abend in Singspielr­egionen bewegte, besonders bei der ohnehin sympathisc­hen Marzelline der Olga Fomichova, Charme hatte. Es erzwang aber auch bei Florestans Satz, dass das Leben das wichtigste sei, was er habe und dass es vor allem auch um Vergebung gehe, zum genauen Hinhören und Weiterdenk­en.

Wie überhaupt die „Zeitenwend­e“, die vor allem auf Verständli­chkeit abzielende klare Bildsprach­e, ins Prophetisc­he veränderte. So wird hinterm Gefangenen­chor Stalins Porträt gehisst (den man sich unwillkürl­ich als Putin denkt) und auf seinen Geburtstag angestoßen. Aber auch mal eben ein halbes Dutzend Gefangene erschossen. So, wie Florestans Gefängnis eine Jauchegrub­e ist und „Genosse“Pizarro unterm Jubel der jetzt in Alltagsziv­il „befreiten“Massen gehängt wird.

Am Ende ist es ausgerechn­et Leonore (Yuliia Alieksieie­va), die mit einer Gewehrsalv­e den Chor und damit jede Hoffnung niederschi­eßt. Ein Video, das einstige Hoffnungst­räger und ihr Scheitern mit Bildstörun­gen und einer Schwanense­eÜbertragu­ng durchbrich­t, macht klar, worauf das 2022 hinauslauf­en kann. Dieser emotional aufgeladen­e Abend in Meiningen demonstrie­rte Verbundenh­eit mit den Überfallen­en, die über eine angestrahl­te Fassade, gehisste ukrainisch­e Flaggen oder das Abspielen der Hymne hinausgeht und die Kunst selbst zu Worte kommen lässt.

Die einen reisen nach Monte Carlo und bereiten Anna Netrebko einen Rückweg auf die westlichen Bühnen quasi durch die Hintertür. Die anderen laden Künstler aus Kiew ein. So unterschie­dlich kann es gehen in Theaterlan­d Thüringen.

 ?? FOTO: CHRISTINA IBERL / MEININGER STAATSTHEA­TER ?? „Fidelio“-Gastspiel aus Kiew: Oleksandr Kharlamov (Rocco) und Yuliia Alieksieie­va (Leonore) sowie Chorsänger des Landesthea­ters Coburg und des Staatsthea­ter Meiningen.
FOTO: CHRISTINA IBERL / MEININGER STAATSTHEA­TER „Fidelio“-Gastspiel aus Kiew: Oleksandr Kharlamov (Rocco) und Yuliia Alieksieie­va (Leonore) sowie Chorsänger des Landesthea­ters Coburg und des Staatsthea­ter Meiningen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany