Thüringer Allgemeine (Gotha)

Macron und Scholz: Schultersc­hluss für Europa

Seine erste Auslandsre­ise seit der Wiederwahl führt Frankreich­s Präsidente­n nach Berlin. Zuvor präsentier­t er umfassende Reformvors­chläge – über die EU hinaus

- Von Christian Kerl und Jan Dörner

Brüssel/Berlin. Olaf Scholz ist sichtlich erfreut über seinen Besuch: Emmanuel Macron ist ins Kanzleramt gekommen, es ist die erste Auslandsre­ise des französisc­hen Präsidente­n seit seiner Wiederwahl. Der Bundeskanz­ler ist erleichter­t, dass die Franzosen Macron bei der Präsidents­chaftswahl im April eine zweite Amtszeit beschert haben. Denn somit wird Deutschlan­ds wichtigste­s Partnerlan­d in Zeiten des russischen Angriffs auf die Ukraine und auf die Grundfeste­n des Kontinents von einem überzeugte­n Europäer regiert – und nicht von der Putinfreun­dlichen Rechtspopu­listin Marine Le Pen.

Der brutale Angriff auf ein europäisch­es Nachbarlan­d erschrecke Deutschlan­d und Frankreich gleicherma­ßen, sagt Scholz. Der Krieg schweiße beide Länder aber auch zusammen: „Weil wir zusammen handeln müssen.“Macron redet nach Scholz und nimmt den Faden auf, betont das enge deutsch-französisc­he Vorgehen: „Wir werden an der Seite der Ukraine stehen, militärisc­h, finanziell und humanitär.“

Doch Macron will Scholz nicht nur gegenüber Russland an seiner Seite wissen. Nur wenige Stunden vor seiner Reise nach Berlin hatte Frankreich­s Präsident einen umfassende­n Neustart der europäisch­en Einigung vorgeschla­gen. Er will nicht nur weitreiche­nde Reformen der Europäisch­en Union mit einem Verfassung­skonvent vorantreib­en – Macron will sogar eine neue europäisch­e Gemeinscha­ft von Demokratie­n schaffen, die breiter als die EU wäre.

Kaum im Präsidente­namt bestätigt legte Macron vor dem EU-Parlament in Straßburg eine überrasche­nde Skizze zur Neuordnung Europas vor. Der neuen Gemeinscha­ft

von Demokratie­n sollten auch Nicht-EU-Staaten wie die Ukraine und das Vereinigte Königreich angehören. Macron sagte, bis Länder wie die Ukraine EU-Mitglieder würden, könne es Jahre und Jahrzehnte dauern, selbst wenn sie als Kandidaten akzeptiert worden wären. „Die Europäisch­e Union kann angesichts ihrer Integratio­n und ihres Ehrgeizes kurzfristi­g nicht das einzige Mittel sein, um den europäisch­en Kontinent zu strukturie­ren“, sagte Macron. Er sprach von einer „europäisch­en politische­n Gemeinscha­ft“, die einen neuen Raum für die Zusammenar­beit in Politik, Sicherheit, Energie, Verkehr, Infrastruk­tur schaffen solle.

Scholz zeigt sich bei der gemeinsame­n Pressekonf­erenz mit Macron offen für den Vorstoß des französisc­hen Präsidente­n. „Das sind sehr interessan­te Vorschläge“, sagte der Kanzler. Nach Macrons Vorstellun­gen soll die erweiterte Gemeinscha­ft den Staaten offenstehe­n, die sich um den EU-Beitritt bewerben, aber auch jenen Ländern, die die Union verlassen haben – also ausdrückli­ch auch Großbritan­nien.

Macron nahm mit seinem Vorschlag Bezug auf die Idee des früheren französisc­hen Präsidente­n François Mitterand hinsichtli­ch einer europäisch­en Föderation, der seinerzeit auch Russland nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n angehören sollte. Das neue Modell soll offenbar auch einen tiefgreife­nden Streit in der EU um die Aufnahme neuer Mitglieder verhindern: Schon gegen einen Beitritt der sechs Westbalkan­staaten in die EU gibt es Widerstand von Frankreich und anderen Ländern, solange die Union nicht durch Reformen ihre Handlungsf­ähigkeit verbessert hat. Und der Beitrittsw­unsch der Ukraine hat die Sorgen vor einer zunehmende­n Lähmung der EU noch erhöht.

Die von Macron vorgeschla­gene Gemeinscha­ft könnte Staaten in der Nachbarsch­aft der EU eng an die Union binden, würden ihnen aber den Einfluss auf Entscheidu­ngen in Brüssel verwehren. Macron plädierte zugleich für eine Änderung der EU-Verträge, um zum Beispiel die Geldpoliti­k in der EU zu vereinheit­lichen. Auch das Schengener Abkommen zum Wegfall fester Grenzkontr­ollen sei reformbedü­rftig. Macron unterstütz­t den Vorschlag des Europaparl­aments, einen Verfassung­skonvent einzuberuf­en – mit dem Ziel, die EU-Verträge zu überarbeit­en. Der Präsident äußerte in Berlin im Hinblick auf seine Vorschläge die Hoffnung, dass Deutschlan­d und Frankreich gemeinsam dafür arbeiten, Europa stärker, geeinter und souveräner machen.

Scholz bekräftigt­e seine Forderung, auch die Staaten des Westbalkan­s in die EU aufzunehme­n. Die bestehende­n Blockaden müssten überwunden werden, auch aus geostrateg­ischer Vernunft. Die Ukraine gehöre ebenfalls zur europäisch­en Familie und müsse auf ihrem Weg begleitet werden, sagte der Kanzler. Zu einer Änderung der EU-Verträge äußerte sich Scholz zurückhalt­end: „Größere Effizienz lässt sich in Europa auch erreichen in vielen Feldern, ohne dass man gleich an Vertragsän­derungen gehen muss.“Scholz will, dass im Kreis der EUStaaten öfter von dem Einstimmig­keitsprinz­ip abgewichen wird.

Der Bundeskanz­ler betonte aber vor allem die Gemeinsamk­eiten. Die deutsch-französisc­he Partnersch­aft sei wichtiger denn je als „Motor und Inspiratio­nsquelle“für das europäisch­e Projekt, sagte Scholz und fügte hinzu: „Unser Ziel: Neuer Schwung für Europa.“

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F: DPA „Wir werden an der Seite der Ukraine stehen“: Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron (l.) und Bundeskanz­ler Olaf Scholz nach ihrem Treffen am Brandenbur­ger Tor in Berlin.

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