Putins rätselhafte Botschaft
Russlands Präsident rechtfertigt bei Parade zum Sieg über Nazi-Deutschland Angriff auf Ukraine – vermeidet aber Ausweitung des Feldzugs
Berlin/Moskau. Bei der russischen Armee läuft es wieder nicht nach Plan, nicht mal am „Tag des Sieges“. 11.000 Soldaten sind auf dem Roten Platz in Moskau aufmarschiert, Lastwagen mit den Interkontinentalraketen für Atombomben, Kampfpanzer und Raketenwerfer rollen an Präsident Wladimir Putin und Verteidigungsminister Sergej Schoigu vorbei. Doch auf den Höhepunkt der Waffenschau müssen die beiden ebenso wie die greisen Veteranen des Zweiten Weltkriegs und Tausende Zuschauer verzichten: Eigentlich sollten 77 Flugzeuge und Hubschrauber an der Parade teilnehmen, Kampfjets sollten das große „Z“als Zeichen für die Unterstützung des Ukraine-Kriegs an den Himmel malen. Die große Flugdemonstration aber wird am Morgen abgesagt – „wegen des Wetters“, wie ein Kremlsprecher erklärt, obwohl der Himmel heiter bis wolkig ist. Putins fliegende Kommandozentrale für den Atomkrieg, die „Weltuntergangs“-Iljuschin Il-80, bleibt deshalb ebenfalls am Boden. Diese Provokation in Richtung Westen fällt also aus.
Es ist nicht die einzige Überraschung des Tages. Der russische Präsident vermeidet in seiner Rede auch jedes Wort dazu, wie es im Ukraine-Krieg weitergehen soll. Der Auftritt ist rätselhaft, Putin lässt die Welt im Ungewissen. Keine Siegesparolen, aber auch keine Ausdehnung des Feldzuges – nur beklemmende Rechtfertigungsversuche und heftige Attacken auf den Westen. Im Vorfeld hatten zahlreiche westliche Politiker und Militärexperten befürchtet, Putin werde zum 77. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland an der Eskalationsschraube drehen: Würde er die sogenannte „Spezialoperation“in der Ukraine offiziell zum Krieg erklären, die Mobilmachung ausrufen, womöglich auch eine rhetorische Kriegsansage an den Westen richten?
Darauf verzichtet Putin. Nicht aber auf heftige Vorwürfe, die den Ukraine-Krieg legimitieren sollen: Der Kremlherrscher begründet den Angriffskrieg mit einer „nicht hinnehmbaren Bedrohung“durch die Nato. Mit Unterstützung des Westens habe die Ukraine eine Besetzung der 2014 von Russland annektierten Krim und der prorussischen Separatistengebiete im Donbass geplant – „unser historisches Land“, wie Putin sagt, auch wenn es sich um ukrainisches Staatsgebiet handelt. Ein Angriff habe unmittelbar bevorgestanden. „Russland hat präventiv die Aggression abgewehrt, das war die einzig richtige Entscheidung“, erklärt er. Die Nato habe vor dem Ausbruch des Krieges jeden Dialog abgelehnt. Putin stellte den Überfall auf die Ukraine in die Tradition des Kampfs gegen NaziDeutschland. Auch die Truppen im Donbass würden dafür kämpfen, dass „niemand die Lehren des Zweiten Weltkriegs vergisst“, dass es keinen Platz gebe für „Henker“und „Nazis“. Putin warnt auch vor der Gefahr eines neuen Weltkriegs. Es müsse alles getan werden, um das zu verhindern.
Überraschend spricht der Präsident die Verluste der russischen Streitkräfte in der Ukraine an und sichert den Familien der Gefallenen Unterstützung zu. Es werde alles getan, „um den Angehörigen Fürsorge zukommen zu lassen und ihnen zu helfen.“Er habe ein entsprechendes Präsidentendekret unterzeichnet. Die Verluste sind immens: In zehn Wochen sind nach NatoSchätzungen 15.000 russische Soldaten gefallen, offiziell hat Russland bislang nur eine Zahl von 1351 getöteten Soldaten eingeräumt. „Das
Eingehen auf die Opfer des aktuellen Krieges, die finanzielle Unterstützung für die Hinterbliebenen waren neu“, sagt Russlandexperte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion. „Man hat offenbar gemerkt, dass das in Russland gesellschaftlich relevant ist.“
Während Putins Rede fliegen russische Raketen auf Odessa
Was Putins Rede für den weiteren Fortgang des Kriegs bedeutet, ist unklar. Auffallend ist, dass der Präsident die Ukraine als Land nicht erwähnte, sondern stets nur vom Donbass sprach. Beschränkt er sein Kriegsziel nun endgültig auf die zum größeren Teil bereits eroberten Gebiete in der Ostukraine? In diesem Fall wäre eine Mobilmachung wohl verzichtbar. Die Rekrutierung Zehntausender Reservisten und Wehrpflichtiger würde Monate dauern und war bislang für den Fall erwartet worden, dass Putin eine neue Großoffensive im Sommer vorbereitet – dafür wäre die Armee aber gegenwärtig zu geschwächt.
Entschieden ist wohl noch nichts: Die Streitkräfte haben laut dem ukrainischen Geheimdienst mit internen Vorbereitungen einer Mobilmachung begonnen und heuern dafür Experten an. Der Druck könnte größer werden, wenn die Ukraine tatsächlich im Juni mit westlicher Waffenhilfe eine Gegenoffensive in der Ostukraine beginnt. Russlandexperte Meister sagt: „Heute gab es keine Eskalation, aber es kann gut sein, dass eine Teilmobilmachung nächste Woche kommt.“Man wisse es nicht, der Kreml sei eine „Blackbox“. Immerhin habe sich Putin etwas in der Rhetorik gegenüber der Ukraine gemäßigt. „Es ist vielleicht auch eine Vorbereitung auf den Moment, wo man mit der Ukraine wirklich verhandeln will“, meint Meister.
Noch ist es nicht so weit. Die Angriffe auf die Ukraine gehen weiter: Während Putin spricht, feuern die russischen Streitkräfte Raketen und Artillerie unter anderem auf Odessa und das Gebiet um Charkiw im Nordosten. Nachdem der Kremlherrscher seine Rede beendet hat, versichert er im Gespräch mit dem Vater eines getöteten prorussischen Separatisten, die Invasion in der Ukraine werde gelingen. „Alle Pläne werden erfüllt, das Ergebnis wird erreicht werden“, sagt Putin. „Daran besteht kein Zweifel“.