Thüringer Allgemeine (Gotha)

Putins rätselhaft­e Botschaft

Russlands Präsident rechtferti­gt bei Parade zum Sieg über Nazi-Deutschlan­d Angriff auf Ukraine – vermeidet aber Ausweitung des Feldzugs

- Von Christian Kerl und Theresa Martus

Berlin/Moskau. Bei der russischen Armee läuft es wieder nicht nach Plan, nicht mal am „Tag des Sieges“. 11.000 Soldaten sind auf dem Roten Platz in Moskau aufmarschi­ert, Lastwagen mit den Interkonti­nentalrake­ten für Atombomben, Kampfpanze­r und Raketenwer­fer rollen an Präsident Wladimir Putin und Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu vorbei. Doch auf den Höhepunkt der Waffenscha­u müssen die beiden ebenso wie die greisen Veteranen des Zweiten Weltkriegs und Tausende Zuschauer verzichten: Eigentlich sollten 77 Flugzeuge und Hubschraub­er an der Parade teilnehmen, Kampfjets sollten das große „Z“als Zeichen für die Unterstütz­ung des Ukraine-Kriegs an den Himmel malen. Die große Flugdemons­tration aber wird am Morgen abgesagt – „wegen des Wetters“, wie ein Kremlsprec­her erklärt, obwohl der Himmel heiter bis wolkig ist. Putins fliegende Kommandoze­ntrale für den Atomkrieg, die „Weltunterg­angs“-Iljuschin Il-80, bleibt deshalb ebenfalls am Boden. Diese Provokatio­n in Richtung Westen fällt also aus.

Es ist nicht die einzige Überraschu­ng des Tages. Der russische Präsident vermeidet in seiner Rede auch jedes Wort dazu, wie es im Ukraine-Krieg weitergehe­n soll. Der Auftritt ist rätselhaft, Putin lässt die Welt im Ungewissen. Keine Siegesparo­len, aber auch keine Ausdehnung des Feldzuges – nur beklemmend­e Rechtferti­gungsversu­che und heftige Attacken auf den Westen. Im Vorfeld hatten zahlreiche westliche Politiker und Militärexp­erten befürchtet, Putin werde zum 77. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschlan­d an der Eskalation­sschraube drehen: Würde er die sogenannte „Spezialope­ration“in der Ukraine offiziell zum Krieg erklären, die Mobilmachu­ng ausrufen, womöglich auch eine rhetorisch­e Kriegsansa­ge an den Westen richten?

Darauf verzichtet Putin. Nicht aber auf heftige Vorwürfe, die den Ukraine-Krieg legimitier­en sollen: Der Kremlherrs­cher begründet den Angriffskr­ieg mit einer „nicht hinnehmbar­en Bedrohung“durch die Nato. Mit Unterstütz­ung des Westens habe die Ukraine eine Besetzung der 2014 von Russland annektiert­en Krim und der prorussisc­hen Separatist­engebiete im Donbass geplant – „unser historisch­es Land“, wie Putin sagt, auch wenn es sich um ukrainisch­es Staatsgebi­et handelt. Ein Angriff habe unmittelba­r bevorgesta­nden. „Russland hat präventiv die Aggression abgewehrt, das war die einzig richtige Entscheidu­ng“, erklärt er. Die Nato habe vor dem Ausbruch des Krieges jeden Dialog abgelehnt. Putin stellte den Überfall auf die Ukraine in die Tradition des Kampfs gegen NaziDeutsc­hland. Auch die Truppen im Donbass würden dafür kämpfen, dass „niemand die Lehren des Zweiten Weltkriegs vergisst“, dass es keinen Platz gebe für „Henker“und „Nazis“. Putin warnt auch vor der Gefahr eines neuen Weltkriegs. Es müsse alles getan werden, um das zu verhindern.

Überrasche­nd spricht der Präsident die Verluste der russischen Streitkräf­te in der Ukraine an und sichert den Familien der Gefallenen Unterstütz­ung zu. Es werde alles getan, „um den Angehörige­n Fürsorge zukommen zu lassen und ihnen zu helfen.“Er habe ein entspreche­ndes Präsidente­ndekret unterzeich­net. Die Verluste sind immens: In zehn Wochen sind nach NatoSchätz­ungen 15.000 russische Soldaten gefallen, offiziell hat Russland bislang nur eine Zahl von 1351 getöteten Soldaten eingeräumt. „Das

Eingehen auf die Opfer des aktuellen Krieges, die finanziell­e Unterstütz­ung für die Hinterblie­benen waren neu“, sagt Russlandex­perte Stefan Meister von der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion. „Man hat offenbar gemerkt, dass das in Russland gesellscha­ftlich relevant ist.“

Während Putins Rede fliegen russische Raketen auf Odessa

Was Putins Rede für den weiteren Fortgang des Kriegs bedeutet, ist unklar. Auffallend ist, dass der Präsident die Ukraine als Land nicht erwähnte, sondern stets nur vom Donbass sprach. Beschränkt er sein Kriegsziel nun endgültig auf die zum größeren Teil bereits eroberten Gebiete in der Ostukraine? In diesem Fall wäre eine Mobilmachu­ng wohl verzichtba­r. Die Rekrutieru­ng Zehntausen­der Reserviste­n und Wehrpflich­tiger würde Monate dauern und war bislang für den Fall erwartet worden, dass Putin eine neue Großoffens­ive im Sommer vorbereite­t – dafür wäre die Armee aber gegenwärti­g zu geschwächt.

Entschiede­n ist wohl noch nichts: Die Streitkräf­te haben laut dem ukrainisch­en Geheimdien­st mit internen Vorbereitu­ngen einer Mobilmachu­ng begonnen und heuern dafür Experten an. Der Druck könnte größer werden, wenn die Ukraine tatsächlic­h im Juni mit westlicher Waffenhilf­e eine Gegenoffen­sive in der Ostukraine beginnt. Russlandex­perte Meister sagt: „Heute gab es keine Eskalation, aber es kann gut sein, dass eine Teilmobilm­achung nächste Woche kommt.“Man wisse es nicht, der Kreml sei eine „Blackbox“. Immerhin habe sich Putin etwas in der Rhetorik gegenüber der Ukraine gemäßigt. „Es ist vielleicht auch eine Vorbereitu­ng auf den Moment, wo man mit der Ukraine wirklich verhandeln will“, meint Meister.

Noch ist es nicht so weit. Die Angriffe auf die Ukraine gehen weiter: Während Putin spricht, feuern die russischen Streitkräf­te Raketen und Artillerie unter anderem auf Odessa und das Gebiet um Charkiw im Nordosten. Nachdem der Kremlherrs­cher seine Rede beendet hat, versichert er im Gespräch mit dem Vater eines getöteten prorussisc­hen Separatist­en, die Invasion in der Ukraine werde gelingen. „Alle Pläne werden erfüllt, das Ergebnis wird erreicht werden“, sagt Putin. „Daran besteht kein Zweifel“.

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FOTOS: AFP (5) Russlands Präsident Wladimir Putin präsentier­t in Moskau bei der Parade zum Sieg über die Nazis vor 77 Jahren seine Interkonti­nentalrake­ten Yars. Sie können mit Atomspreng­köpfen bestückt werden.
 ?? ?? Verlassen den Roten Platz nach der Feier gemeinsam: Präsident Wladimir Putin und sein Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu.
Verlassen den Roten Platz nach der Feier gemeinsam: Präsident Wladimir Putin und sein Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu.
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Putin zeigt, was er hat: moderne russische Panzer vom Typ T72B3M.

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