Thüringer Allgemeine (Gotha)

Aufstehen und Schlafenge­hen mit dem Krieg

Die Autorin Cordula Simon verbindet viel mit der Ukraine. Als Stadtschre­iberin in Gotha hilft sie Flüchtling­en

- Von Franziska Gräfenhan

Gotha. Das dunkle Rubinrot hüpft einen an. Im Gothaer Stadtbild ist Cordula Simon kaum zu übersehen. Nicht nur die Haare der Autorin, auch die Brille und die Lippen, ja sogar die Nägel leuchten in der augenfälli­gen Farbe, die wie kaum eine andere für Sinnlichke­it und Selbstvert­rauen steht. Seit Anfang April ist die fesche Österreich­erin in Gotha zu Gast. Sechs Monate wird sie hier verbringen und als Stadtschre­iberin über ihre Eindrücke berichten. Bisher hat die 36-Jährige jedoch vor allem den Hauptfried­hof gesehen.

„Ich bin eigentlich nur spazieren gegangen. Das ist so ein Ding beim Schreiben, ab und zu muss ich das Hirn auslüften“, sagt die grazile Grazerin, während sie in einem Café auf dem Neumarkt sitzt und pechschwar­zen Kaffee trinkt. Ihre Stimme ist überrasche­nd tief. Der weiche, schwingend­e Dialekt mit den breiten Lauten drängelt sich durch das Goth’sche Genuschel um sie herum und lässt die Leute für einen Moment aufhorchen.

Den mittlerwei­le fünften

Roman veröffentl­icht

Dass sie beim Spazieren in Gotha ausgerechn­et auf dem Friedhof landete, ist kein wirklicher Zufall. „Tote Leute sind sehr angenehme Leute“, sagt Simon einen Satz, der genau so gedruckt werden könnte. Seit 2018 arbeitet sie neben dem Schreiben als „Geringfügi­ge“bei einem Bestatter in Graz, um nicht immer denken zu müssen. Sie packt mit an, hebt Leichen, wäscht sie und schminkt die Toten. Diese Ablenkung fehlt während ihres Aufenthalt­s in Gotha, der eigentlich eine unbeschwer­te, inspiriere­nde Zeit versprach.

Doch dann war Krieg in der Ukraine – und für Simon trat plötzlich alles andere in den Hintergrun­d, selbst die Veröffentl­ichung ihres fünften Romanes „Die Wölfe von Pripyat“. Fünf Jahre lang hat Simon in der Hafenstadt Odessa gelebt, die seit Anfang dieser Woche unter russischem Raketenbes­chuss steht. Die meisten ihrer Freunde haben Schrecklic­hes erlebt, sind bereits geflohen oder noch auf der Flucht. „Ich stehe morgens mit dem Krieg auf und gehe abends mit ihm ins Bett“, sagt sie trocken und zündet sich eine selbstgedr­ehte Zigarette an.

Sie raucht und spricht über ihre Zeit am Schwarzen Meer erst als Studentin und später als LiteraturS­tipendiati­n. Auf jeden Kippenstum­mel folgt eine neue Zigarette, die nonchalant zwischen den rubinroten Nägeln und Lippen wandert.

Simon atmet Rauch und redet von Fronten in Wohnzimmer­n, die sich schon 2014 auftaten, und einer wachsenden Spaltung von Familien, Freunden, Gesellscha­ften. Mit dem Krieg habe jedoch weder sie noch irgendwer ihrer Bekannten gerechnet.

Sehr lange habe sie gebraucht, das Geschehen zu begreifen. Jetzt wohnt eine ukrainisch­e Freundin mit ihrer Mutter und ihrer Katze mit in der Dreiraumwo­hnung, die sie als

Stipendiat­in nutzt. „Die Katz ist wie ein Kind, sie spielt gern Verstecken, aber sie hat Angst vor meinem schwarzen Morgenmant­el“, sagt Simon, die noch ein weiteres Zimmer für Geflüchtet­e frei hält und alle Erlöse aus Lesungen und Workshops an Hilfsorgan­isationen in die Ukraine spendet.

Cordula Simon: Die Wölfe von Pripyat, Residenz Verlag, 2022, 396 Seiten, ISBN: 978 3 7017 1750 7.

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FOTO: FRANZISKA GRÄFENHAN Die österreich­ische Autorin Cordula Simon ist für sechs Monate Stadtschre­iberin der Stadt Gotha. Bisher hat es sie vor allem zu den Friedhöfen der Stadt gezogen.

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