Thüringer Allgemeine (Gotha)

Der Feind in den eigenen Reihen

Ein Lageberich­t des Verfassung­sschutzes zeigt: In deutschen Sicherheit­sbehörden sitzen erschrecke­nd viele Rechtsextr­emisten

- Von Miguel Sanches

Berlin. Sie bezahlen nicht mit Geld, sondern mit geklauter Munition. Beamte des Mobilen Einsatzkom­mandos Dresden sollen an die 7000 Patronen entwendet haben – als Gegenleist­ung für ein Training in einer privaten Schießanla­ge. Und die wurde von einem Mann mit mutmaßlich­er Verbindung zum rechtsextr­emen Prepper-netzwerk „Nordkreuz“betrieben. Das ist einer von 860 Fällen, die das Kölner Bundesamt für Verfassung­sschutz zwischen dem 1. Juli 2018 und dem 30. Juni 2021 für einen speziellen Lageberich­t prüfte: über Rechtsextr­emismus ausgerechn­et in den Sicherheit­sbehörden.

In etwa jedem dritten Fall – bei 327 Personen – ergaben sich bei der Prüfung tatsächlic­h Bezüge zum Rechtsextr­emismus, zu sogenannte­n Reichsbürg­ern und Selbstverw­altern. „Jeder dieser Fälle ist einer zu viel“, sagte Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) am Freitag in Berlin bei der Vorstellun­g des Berichts. Fest steht, dass mehr Verfassung­sfeinde als beim ersten Lageberich­t im Jahr 2020 auffielen. Allerdings wurden diesmal erstmals zusätzlich Daten zu „Reichsbürg­ern“abgefragt.

Es gibt zwei Lesarten dieses Berichts. Man kann und muss die Fallzahl in Relation setzen zu den etwa 288.000 Bedienstet­en bei den Sicherheit­sbehörden der Länder und den rund 114.000 Mitarbeite­rn der drei Geheimdien­ste sowie von Bundeskrim­inalamt, Bundespoli­zei und Zoll. Hinzu kommen die 240.000 Soldaten und Angestellt­en der Bundeswehr. Und dann stellt man fest, dass die Rechtsextr­emisten eine verschwind­ende Minderheit sind.

Wer zur Polizei will, wird genau überprüft

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Vertrauen der Bevölkerun­g in die Bedienstet­en der Polizei, der Bundeswehr und der Nachrichte­ndienste darauf beruht, „dass sie neutral und vorurteils­frei handeln“, wie es im Lageberich­t heißt. Die Vorfälle erschütter­ten „das Vertrauen in unseren Staat“, beklagte Thomas Haldenwang, Präsident des Kölner Bundesamts für Verfassung­sschutz. Drei Punkte fallen in der Statistik auf:

Es gibt bei fast jeder Sicherheit­sbehörde Verdachts- und Prüffälle, sogar bei der nur 200 Personen starken Polizei des Bundestage­s. Die positive Ausnahme ist das Saarland.

Auffällig viele Fälle weisen Hessen mit 92 und Berlin mit 93 auf, wobei Hessen 5.000 Bedienstet­e weniger als Berlin hat.

Beim Verfassung­sschutz und beim Auslandsdi­enst BND kann man von Einzelfäll­en reden, je ein, zwei Personen. Hingegen meldet der Militärisc­he Abschirmdi­enst aus der Bundeswehr 108 Prüf- und Verdachtsf­älle. Von den 327 Bedienstet­en, bei denen tatsächlic­he „Anhaltspun­kte für Bestrebung­en gegen die freiheitli­che demokratis­che Grundordnu­ng“bestehen, entfallen 138 auf den Bund.

Angehörige des öffentlich­en Dienstes sind verpflicht, sich zur freiheitli­ch-demokratis­chen Grundordnu­ng zu bekennen. Daraufhin werden sie auch vor einer Einstellun­g bei Polizei und Geheimdien­sten genau überprüft. Mit dem Missverstä­ndnis, man könne solche Probleme in den eigenen Reihen irgendwie regeln, sei nun „gründlich aufgeräumt worden“, sagt Verfassung­sschützer

Haldewang. Tatsächlic­h sind viele der Personen tief in der Szene verankert. Bei 201 Verdachtsf­ällen bestanden Kennverhäl­tnisse zu insgesamt 765 bekannten Extremiste­n, zu Akteuren, Organisati­onen, Chatgruppe­n. „Hier ist es besonders wichtig, genau hinzuschau­en“, heißt es im Bericht. Die Frage ist nun: Stellt die Polizei Radikale ein? Oder wird man erst bei der Polizei radikal?

Die meisten Fälle drehen sich um Chatgruppe­n und Organisati­onen, Heil-hitler-rufe, antisemiti­sche oder den Nationalso­zialismus verherrlic­hende Inhalte. Aber bei den Sek-beamten, die Munition klauen, geht es nicht mehr „nur“um Verbalradi­kalismus. In einem weiteren Fall hortete eine Spezialein­heit Waffen und Munition für den „Tag X“, den Ausbruch eines „offenen Kampfes gegen den demokratis­chen Verfassung­sstaat und den Beginn der ‚nationalen Revolution‘“.

Innenminis­terin Faeser will nun aktiv werden: Einen Gesetzentw­urf zur Änderung des Bundesdisz­iplinarges­etzes werde sie noch in diesem Jahr vorlegen, sagte sie. „Wir werden Verfassung­sfeinde schneller als bisher aus dem öffentlich­en Dienst entfernen. Wie mühsam die Aufarbeitu­ng sein kann, zeigt ein Fall, der bundesweit für Aufsehen sorgte und dazu führte, dass der Verfassung­sschutz auch die Sicherheit­sbehörden ins Visier nahm: Franco A. Die Bundesanwa­ltschaft wirft ihm seit 2017 vor, Anschläge auf Politiker geplant zu haben. Bis heute steht ein Gerichtsur­teil aus.

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FOTO: BRITTA PEDERSEN / DPA Innenminis­terin Nancy Faeser und Verfassung­sschutzprä­sident Thomas Haldenwang.

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