Thüringer Allgemeine (Gotha)

Offene Fragen der Menschlich­keit

Buh-rufe gegen Pen-präsident in Gotha. Entscheidu­ng über Abwahl verzögert sich wohl

- Von Michael Helbing

Gotha. Hanns Cibulka gibt posthum den Ton vor: „Sturm, die Luft in meinem Zimmer ist verbraucht, ich stoß das Fenster auf“, dichtete 1968 der Gothaer Schriftste­ller und Bibliothek­ar. „Wo beginnen, schreib ich ihm entgegen. Dort, wo deine Fragen offen sind.“– Der offenen Fragen sind viele im Pen-zentrum Deutschlan­d. Und stürmisch geht’s zu in der Schriftste­llerverein­igung, die sich gerade in Gotha in ein bestenfall­s reinigende­s Gewitter stellt.

Sie trifft sich seit Freitag im Hanns-cibulka-saal der Stadtbibli­othek, wo die Luft schnell dünn zu werden drohte. Rund 130 ihrer 770 Mitglieder hatten sich angemeldet, zu einer allerdings hybriden Jahrestagu­ng, an der man auch online teilnehmen kann. Beredtes Motto des Treffens, das von Stadt und Freistaat mit je 20.000 Euro unterstütz­t wird: „Dort, wo deine Fragen offen sind“.

Zu klären ist unter anderem, wer das Pen-zentrum künftig führt, obwohl erst im vergangene­n Herbst in Frankfurt/main ein neues ehrenamtli­ches Präsidium gewählt worden war, mit dem Journalist­en Deniz Yücel an der Spitze. Der Präsident bedauerte jetzt in Gotha, wo ihm gleich zu Tagungsbeg­inn auch Buh-rufe entgegen schallten, „unnötige Fehler und dadurch entstanden­e Verletzung­en und Verwerfung­en“, zu denen er demnach beitrug.

Anträge von Gegnern und auch von Befürworte­rn des Präsidente­n Deshalb stellten vorab 47 Mitglieder gleichlaut­ende Anträge, Yücel sowie Vizepräsid­ent Ralf Nestmeyer und Schatzmeis­ter Joachim Helfer abzuberufe­n: unterzeich­net von Renan Demirkan, Petra Reski, Kathrin Schmidt oder Tanja Kinkel, Ralph Grüneberge­r, Christoph Peters, Werner Rügemer oder Jens Wonneberge­r. Sie beklagen „Herrschera­llüren“sowie „eine tiefgreife­nde, systemisch­e Störung des Anstands und der Würde des Pen.“

61 Mitglieder hielten dagegen. Sie wollen den Betroffene­n das Vertrauen ausgesproc­hen wissen: Julia Franck, Nina George, Nora Gomringer, Jens Bisky, Jan Kuhlbrodt, Karl Schlögel, Jan Volker Röhnert oder Feridun Zaimoğlu. Der Pen sei mit seinem Einsatz für die Freiheit öffentlich so präsent wie schon lange nicht mehr, argumentie­ren sie.

Die Abstimmung­en waren für Freitag Nachmittag geplant. Doch gab’s derart viel Streitlust, dass der Zeitplan nicht mal ansatzweis­e zu halten war. Bis Redaktions­schluss blieb unklar, ob Entscheidu­ngen nun nicht doch erst Samstag fallen.

Derweil wollen Yücel und Nestmeyer Vizepräsid­entin Astrid Vehstedt

auffordern lassen, ihr Amt als Beauftragt­e des Programms „Writers in Exil“satzungsge­mäß auszuführe­n. Mit Geld vom Bund hilft man hier seit 1999 zeitgleich zwölf, künftig wohl fünfzehn verfolgten Schriftste­llern bis zu drei Jahre lang mit einem monatliche­n Stipendium sowie einer Wohnung in Deutschlan­d. Solche Exil-autoren treten gerade bei Lesungen in Gotha auf.

Das Präsidium will die Vergaben der zweckgebun­denen Mittel kontrollie­ren, Vehstedt pocht auf Eigenständ­igkeit. Sie warf dem Präsidium in Gotha autoritäre­n Führungsst­il vor, Generalsek­retär Heinrich Peuckmann beklagte eine „strenge Hierarchie“und auch, man habe ihn und Vehstedt zum Rücktritt drängen wollen. Yücel wolle den Pen zu einer Nichtregie­rungsorgan­isiation umbauen wolle, in der auf Literatur „kein Wert gelegt“werde.

„Ach“, stöhnte bereits am Donnerstag­abend Regula Venske in der Augustiner­kirche, „was wäre all unsere engagierte Menschenre­chtsarbeit wert, wenn wir nicht auch miteinande­r menschlich verkehrten.“Dafür gab’s spontanen Applaus für Yücels Vorgängeri­n von, die die doppelte Verleihung eines vom Frankfurte­r Schriftste­ller Kurt Sigl gestiftete­n, im Zwei-jahresrhyt­hmus vergebenen Lyrikpreis­es moderierte. Eine für eine Schriftste­llerin doch eher simple Einlassung. „Ich bin ein Mensch“, dichtete ja schon Terenz, „nichts Menschlich­es ist mir fremd.“Menschlich geht’s im Pen mithin so oder so zu.

Gotha könnte Kurt-sigl-lyrikpreis künftig in Eigenregie übernehmen Den mit 4000 Euro dotierten Lyrikpreis erhielt, nachträgli­ch für 2020 Claudia Gabler, sowie in diesem Jahr Sabine Göttel. Nach insgesamt vier Vergaben seit 2016 ist Sigls Preisgeld damit allerdings aufgebrauc­ht. Hinter den Kulissen kam bereits die Idee auf, zusammen mit OB Knut Kreuch darauf künftig einen Gothaer Lyrikpreis auf dem Friedenste­in zu machen.

Dort geht es jetzt mal um „Krieg, Frieden und den Pen“. Auf einem Podium am Samstag wird über Waffenlief­erungen an die Ukraine gestritten: mit Yücel sowie Marjana Gaponenko, Eva Menasse und Sascha Lobo, die dafür, sowie Johano Strasser und Svenja Flaßpöhler, die dagegenspr­echen. Strasser ist einer von fünf Ex-präsidente­n, die Yücel bereits zum Rücktritt auffordert­en, weil der sich für eine Flugverbot­szone über der Ukraine aussprach.

„Fride Ernehret Unfriede Verzehret“, steht um das Friedensku­ss-relief am Nordportal des Schlosses. Aber auch das ist letztlich doch eine Frage der Interpreta­tion. mit dpa

„Weltflucht und Moderne. Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900“(14. Mai 2022 bis 15. Januar 2023 im Albertinum Dresden; Öffnungsze­iten: täglich außer montags 10 Uhr bis 18 Uhr

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FOTO: MARTIN SCHUTT / DPA Deniz Yücel, Präsident des Pen-zentrums, in Gotha.

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