Offene Fragen der Menschlichkeit
Buh-rufe gegen Pen-präsident in Gotha. Entscheidung über Abwahl verzögert sich wohl
Gotha. Hanns Cibulka gibt posthum den Ton vor: „Sturm, die Luft in meinem Zimmer ist verbraucht, ich stoß das Fenster auf“, dichtete 1968 der Gothaer Schriftsteller und Bibliothekar. „Wo beginnen, schreib ich ihm entgegen. Dort, wo deine Fragen offen sind.“– Der offenen Fragen sind viele im Pen-zentrum Deutschland. Und stürmisch geht’s zu in der Schriftstellervereinigung, die sich gerade in Gotha in ein bestenfalls reinigendes Gewitter stellt.
Sie trifft sich seit Freitag im Hanns-cibulka-saal der Stadtbibliothek, wo die Luft schnell dünn zu werden drohte. Rund 130 ihrer 770 Mitglieder hatten sich angemeldet, zu einer allerdings hybriden Jahrestagung, an der man auch online teilnehmen kann. Beredtes Motto des Treffens, das von Stadt und Freistaat mit je 20.000 Euro unterstützt wird: „Dort, wo deine Fragen offen sind“.
Zu klären ist unter anderem, wer das Pen-zentrum künftig führt, obwohl erst im vergangenen Herbst in Frankfurt/main ein neues ehrenamtliches Präsidium gewählt worden war, mit dem Journalisten Deniz Yücel an der Spitze. Der Präsident bedauerte jetzt in Gotha, wo ihm gleich zu Tagungsbeginn auch Buh-rufe entgegen schallten, „unnötige Fehler und dadurch entstandene Verletzungen und Verwerfungen“, zu denen er demnach beitrug.
Anträge von Gegnern und auch von Befürwortern des Präsidenten Deshalb stellten vorab 47 Mitglieder gleichlautende Anträge, Yücel sowie Vizepräsident Ralf Nestmeyer und Schatzmeister Joachim Helfer abzuberufen: unterzeichnet von Renan Demirkan, Petra Reski, Kathrin Schmidt oder Tanja Kinkel, Ralph Grüneberger, Christoph Peters, Werner Rügemer oder Jens Wonneberger. Sie beklagen „Herrscherallüren“sowie „eine tiefgreifende, systemische Störung des Anstands und der Würde des Pen.“
61 Mitglieder hielten dagegen. Sie wollen den Betroffenen das Vertrauen ausgesprochen wissen: Julia Franck, Nina George, Nora Gomringer, Jens Bisky, Jan Kuhlbrodt, Karl Schlögel, Jan Volker Röhnert oder Feridun Zaimoğlu. Der Pen sei mit seinem Einsatz für die Freiheit öffentlich so präsent wie schon lange nicht mehr, argumentieren sie.
Die Abstimmungen waren für Freitag Nachmittag geplant. Doch gab’s derart viel Streitlust, dass der Zeitplan nicht mal ansatzweise zu halten war. Bis Redaktionsschluss blieb unklar, ob Entscheidungen nun nicht doch erst Samstag fallen.
Derweil wollen Yücel und Nestmeyer Vizepräsidentin Astrid Vehstedt
auffordern lassen, ihr Amt als Beauftragte des Programms „Writers in Exil“satzungsgemäß auszuführen. Mit Geld vom Bund hilft man hier seit 1999 zeitgleich zwölf, künftig wohl fünfzehn verfolgten Schriftstellern bis zu drei Jahre lang mit einem monatlichen Stipendium sowie einer Wohnung in Deutschland. Solche Exil-autoren treten gerade bei Lesungen in Gotha auf.
Das Präsidium will die Vergaben der zweckgebundenen Mittel kontrollieren, Vehstedt pocht auf Eigenständigkeit. Sie warf dem Präsidium in Gotha autoritären Führungsstil vor, Generalsekretär Heinrich Peuckmann beklagte eine „strenge Hierarchie“und auch, man habe ihn und Vehstedt zum Rücktritt drängen wollen. Yücel wolle den Pen zu einer Nichtregierungsorganisiation umbauen wolle, in der auf Literatur „kein Wert gelegt“werde.
„Ach“, stöhnte bereits am Donnerstagabend Regula Venske in der Augustinerkirche, „was wäre all unsere engagierte Menschenrechtsarbeit wert, wenn wir nicht auch miteinander menschlich verkehrten.“Dafür gab’s spontanen Applaus für Yücels Vorgängerin von, die die doppelte Verleihung eines vom Frankfurter Schriftsteller Kurt Sigl gestifteten, im Zwei-jahresrhythmus vergebenen Lyrikpreises moderierte. Eine für eine Schriftstellerin doch eher simple Einlassung. „Ich bin ein Mensch“, dichtete ja schon Terenz, „nichts Menschliches ist mir fremd.“Menschlich geht’s im Pen mithin so oder so zu.
Gotha könnte Kurt-sigl-lyrikpreis künftig in Eigenregie übernehmen Den mit 4000 Euro dotierten Lyrikpreis erhielt, nachträglich für 2020 Claudia Gabler, sowie in diesem Jahr Sabine Göttel. Nach insgesamt vier Vergaben seit 2016 ist Sigls Preisgeld damit allerdings aufgebraucht. Hinter den Kulissen kam bereits die Idee auf, zusammen mit OB Knut Kreuch darauf künftig einen Gothaer Lyrikpreis auf dem Friedenstein zu machen.
Dort geht es jetzt mal um „Krieg, Frieden und den Pen“. Auf einem Podium am Samstag wird über Waffenlieferungen an die Ukraine gestritten: mit Yücel sowie Marjana Gaponenko, Eva Menasse und Sascha Lobo, die dafür, sowie Johano Strasser und Svenja Flaßpöhler, die dagegensprechen. Strasser ist einer von fünf Ex-präsidenten, die Yücel bereits zum Rücktritt aufforderten, weil der sich für eine Flugverbotszone über der Ukraine aussprach.
„Fride Ernehret Unfriede Verzehret“, steht um das Friedenskuss-relief am Nordportal des Schlosses. Aber auch das ist letztlich doch eine Frage der Interpretation. mit dpa
„Weltflucht und Moderne. Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900“(14. Mai 2022 bis 15. Januar 2023 im Albertinum Dresden; Öffnungszeiten: täglich außer montags 10 Uhr bis 18 Uhr