Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Junge Menschen sind kritischer“

Die jüdische Aktivistin Hanna Veiler über das Verhältnis der Gen Z zur NS-Zeit

- Von Oskar Schulz, funky-Jugendrepo­rter

Welche Rolle spielt die Zeit des Nationalso­zialismus für die Generation Z? Laut einer aktuellen Studie im Auftrag der Arolsen Archives äußerten 75 Prozent der 16 bis 25 Jahre alten Befragten mehr Interesse an der Geschichte des sogenannte­n Dritten Reiches als noch ihre Eltern. Gleichzeit­ig sind sie eine der ersten Generation­en, die ohne direkten Kontakt zu Opfern oder Tätern aufwachsen. Wie muss Bildungsar­beit aussehen, damit sich auch künftige Generation­en der Lehren bewusst werden können, die aus dem Dritten Reich gezogen werden müssen? Hanna Veiler ist eine jüdische Aktivistin und Co-Vorsitzend­e der Jüdischen Studierend­enunion Deutschlan­d (JSUD). Im Interview erklärt die 23-Jährige, welche blinden Flecken sie bei jungen Menschen beobachtet.

Wie kann man junge Menschen am besten für die Schrecken der NSZeit sensibilis­ieren?

Es ist wichtig zu verstehen, dass es auch außerhalb der NS-Zeit alltäglich­es jüdisches Leben gab und gibt. Junge Menschen müssen realisiere­n, dass Leute neben ihnen in der Klasse, im Sportverei­n oder im UniKurs sitzen, die ein ganz anderes Erbe mit sich tragen. Wenn man in Deutschlan­d mit der Schule fertig ist, dann kennt man in den meisten Fällen nur tote Jüdinnen und Juden. Man hat zwar zwangsweis­e über die Shoa gesprochen und Bilder von Leichenber­gen gesehen, aber nur die wenigsten sprechen über Antisemiti­smus vor und nach dem Dritten Reich. Im besten Fall besucht man eine Gedenkstät­te. Nach der Schule denken viele, dass alle Jüdinnen und Juden Opfer der Konzentrat­ionslager wurden. Die wenigsten haben die Möglichkei­t, real existieren­de Jüdinnen und Juden zu treffen. Dann würden sie nämlich schnell Gemeinsamk­eiten feststelle­n.

Vielen jungen Menschen fällt es oft schwer, Antisemiti­smus und Rassismus zu unterschei­den. Wünschst du dir da mehr Abgrenzung?

Ich bin viel in der queeren, linken und grünen Szene unterwegs. Am verletzend­sten ist, dass Antisemiti­smus in diesen Räumen oft ein blinder Fleck ist. Man ist zwar zum Glück achtsamer bei Themen wie Rassismus und Sexismus, aber zu Antisemiti­smus fehlen den Leuten oft der Bezugspunk­t und das Wissen. Die meisten kennen niemanden, der betroffen ist. Deshalb geht das Thema oft unter, wenn über Rassismus geredet wird. Man geht davon aus, dass Antisemiti­smus schon dazugehört. Das ist falsch. Es sind zwei unterschie­dliche Phänomene, die getrennt thematisie­rt werden müssen. Antisemiti­smus kann sich rassistisc­h äußern, wie zum Beispiel im Nationalso­zialismus, funktionie­rt aber anders als Rassismus. Obwohl der Kampf gegen Antisemiti­smus nur gemeinsam mit dem Kampf gegen Rassismus gekämpft werden kann. Bei beiden handelt es sich um von der Dominanzge­sellschaft errichtete Feindbilde­r.

Die Gen Z wächst als eine der ersten Generation­en auf, die keinen direkten Kontakt zur Täter- und Opfergener­ation hat. Welche Risiken und Chancen siehst du darin?

Die Risiken sind klar. Man hat nicht mehr die Möglichkei­t, ein Gespräch zu beginnen nach dem Schema: „Opa, was hast du damals eigentlich gemacht?“Man kann die Personen nicht mehr konfrontie­ren. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, was Chancen sein könnten. Ich bemerke, dass Jüngere einen blinden Fleck beim Thema Antisemiti­smus haben, aber gleichzeit­ig mehr über Rassismus sprechen. Dagegen redet die ältere Generation mehr über Antisemiti­smus. Aber auch hier gilt: Wie und mit welchen Motiven wird darüber gesprochen? Geht es um eine ehrliche Aufarbeitu­ng oder darum, sich zu vergewisse­rn, dass Jüdinnen und Juden es heute in Deutschlan­d so gut haben? Was feststeht, ist, dass sich das Erinnern verändern wird, weil junge

Menschen heute kritischer sind, was die Vergangenh­eit angeht. Ja, die Shoa entfernt sich immer mehr und alle müssen hinterfrag­en, was sie immer noch damit zu tun haben. Verjährt das irgendwann? Das zu sagen, nur weil man niemanden mehr aus der Zeit kennengele­rnt hat, ist ein krasses Privileg.

Die Aufklärung über Antisemiti­smus findet oft im Zusammenha­ng mit der Shoa statt. Welche anderen Aspekte sollten in den Schulunter­richt einbezogen werden?

Aspekte des alltäglich­en jüdischen Lebens. Es gibt bereits das Projekt „Meet a Jew“. Das ist ein Begegnungs­projekt vom Zentralrat der Juden in Deutschlan­d. Jüdische Schülerinn­en und Schüler oder Studierend­e besuchen Schulklass­en oder auch Fußballver­eine und beantworte­n Fragen. Die Freiwillig­en sollten einen Bezugspunk­t zu den Gruppen haben,also im selben Alter sein oder auch Fußball spielen.

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FOTO: RINA GRECHTINA Hanna Veiler möchte, dass junge Menschen alltäglich­es jüdisches Leben kennenlern­en.

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