„Junge Menschen sind kritischer“
Die jüdische Aktivistin Hanna Veiler über das Verhältnis der Gen Z zur NS-Zeit
Welche Rolle spielt die Zeit des Nationalsozialismus für die Generation Z? Laut einer aktuellen Studie im Auftrag der Arolsen Archives äußerten 75 Prozent der 16 bis 25 Jahre alten Befragten mehr Interesse an der Geschichte des sogenannten Dritten Reiches als noch ihre Eltern. Gleichzeitig sind sie eine der ersten Generationen, die ohne direkten Kontakt zu Opfern oder Tätern aufwachsen. Wie muss Bildungsarbeit aussehen, damit sich auch künftige Generationen der Lehren bewusst werden können, die aus dem Dritten Reich gezogen werden müssen? Hanna Veiler ist eine jüdische Aktivistin und Co-Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Im Interview erklärt die 23-Jährige, welche blinden Flecken sie bei jungen Menschen beobachtet.
Wie kann man junge Menschen am besten für die Schrecken der NSZeit sensibilisieren?
Es ist wichtig zu verstehen, dass es auch außerhalb der NS-Zeit alltägliches jüdisches Leben gab und gibt. Junge Menschen müssen realisieren, dass Leute neben ihnen in der Klasse, im Sportverein oder im UniKurs sitzen, die ein ganz anderes Erbe mit sich tragen. Wenn man in Deutschland mit der Schule fertig ist, dann kennt man in den meisten Fällen nur tote Jüdinnen und Juden. Man hat zwar zwangsweise über die Shoa gesprochen und Bilder von Leichenbergen gesehen, aber nur die wenigsten sprechen über Antisemitismus vor und nach dem Dritten Reich. Im besten Fall besucht man eine Gedenkstätte. Nach der Schule denken viele, dass alle Jüdinnen und Juden Opfer der Konzentrationslager wurden. Die wenigsten haben die Möglichkeit, real existierende Jüdinnen und Juden zu treffen. Dann würden sie nämlich schnell Gemeinsamkeiten feststellen.
Vielen jungen Menschen fällt es oft schwer, Antisemitismus und Rassismus zu unterscheiden. Wünschst du dir da mehr Abgrenzung?
Ich bin viel in der queeren, linken und grünen Szene unterwegs. Am verletzendsten ist, dass Antisemitismus in diesen Räumen oft ein blinder Fleck ist. Man ist zwar zum Glück achtsamer bei Themen wie Rassismus und Sexismus, aber zu Antisemitismus fehlen den Leuten oft der Bezugspunkt und das Wissen. Die meisten kennen niemanden, der betroffen ist. Deshalb geht das Thema oft unter, wenn über Rassismus geredet wird. Man geht davon aus, dass Antisemitismus schon dazugehört. Das ist falsch. Es sind zwei unterschiedliche Phänomene, die getrennt thematisiert werden müssen. Antisemitismus kann sich rassistisch äußern, wie zum Beispiel im Nationalsozialismus, funktioniert aber anders als Rassismus. Obwohl der Kampf gegen Antisemitismus nur gemeinsam mit dem Kampf gegen Rassismus gekämpft werden kann. Bei beiden handelt es sich um von der Dominanzgesellschaft errichtete Feindbilder.
Die Gen Z wächst als eine der ersten Generationen auf, die keinen direkten Kontakt zur Täter- und Opfergeneration hat. Welche Risiken und Chancen siehst du darin?
Die Risiken sind klar. Man hat nicht mehr die Möglichkeit, ein Gespräch zu beginnen nach dem Schema: „Opa, was hast du damals eigentlich gemacht?“Man kann die Personen nicht mehr konfrontieren. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, was Chancen sein könnten. Ich bemerke, dass Jüngere einen blinden Fleck beim Thema Antisemitismus haben, aber gleichzeitig mehr über Rassismus sprechen. Dagegen redet die ältere Generation mehr über Antisemitismus. Aber auch hier gilt: Wie und mit welchen Motiven wird darüber gesprochen? Geht es um eine ehrliche Aufarbeitung oder darum, sich zu vergewissern, dass Jüdinnen und Juden es heute in Deutschland so gut haben? Was feststeht, ist, dass sich das Erinnern verändern wird, weil junge
Menschen heute kritischer sind, was die Vergangenheit angeht. Ja, die Shoa entfernt sich immer mehr und alle müssen hinterfragen, was sie immer noch damit zu tun haben. Verjährt das irgendwann? Das zu sagen, nur weil man niemanden mehr aus der Zeit kennengelernt hat, ist ein krasses Privileg.
Die Aufklärung über Antisemitismus findet oft im Zusammenhang mit der Shoa statt. Welche anderen Aspekte sollten in den Schulunterricht einbezogen werden?
Aspekte des alltäglichen jüdischen Lebens. Es gibt bereits das Projekt „Meet a Jew“. Das ist ein Begegnungsprojekt vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Jüdische Schülerinnen und Schüler oder Studierende besuchen Schulklassen oder auch Fußballvereine und beantworten Fragen. Die Freiwilligen sollten einen Bezugspunkt zu den Gruppen haben,also im selben Alter sein oder auch Fußball spielen.