Thüringer Allgemeine (Gotha)

Selenskyj – so hat ihn der Krieg verändert

Als der ukrainisch­e Staatschef 2019 sein Amt antrat, nahm ihn kaum jemand ernst. Seit Russlands Überfall ist alles anders

- Von Ulrich Krökel

Kiew. Der erste Schlag richtet sich gegen das Haupt der Nation. In der Nacht auf den 24. Februar landen russische Fallschirm­jäger in Kiew. Sie sollen Präsident Wolodymyr Selenskyj gefangen nehmen oder töten. Das ist Wladimir Putins Auftrag. Der Kremlchef will einen Regimewech­sel erzwingen, die ganze Ukraine seiner Macht unterwerfe­n. Die Invasion sichert den „Enthauptun­gsschlag“ab. Der politische Kopf des Landes soll fallen, damit das kopflose Land kapitulier­t.

Und was tut Selenskyj? „Mit meiner Frau Olena bin ich zu unseren Kindern gegangen, um sie zu wecken“, erzählt er später. Der neunjährig­e Kyrylo und die 17-jährige Oleksandra sollen sich zur Flucht bereit machen. Aber sonst? Sind da nur ein paar Sinneseind­rücke: „Es war dunkel und laut.“Zweimal versucht die russische Einheit, den Präsidente­npalast zu stürmen – und scheitert. Seitdem überzieht Russland die Ukraine mit Krieg. Aus dem Grauen aber ragt Selenskyj wie eine Lichtgesta­lt hervor. Weil er bleibt, statt zu fliehen.

„Ich brauche Munition, keine Mitfahrgel­egenheit“, antwortet Selenskyj, als der US-Geheimdien­st ihn außer Landes bringen will. Hätte die Ukraine kapitulier­t, wenn der Kopf gefallen wäre? Jede Antwort ist Spekulatio­n. Im Land selbst sind sich aber fast alle einig, dass sie erst recht gekämpft hätten. Für ihren Präsidente­n, der zum Märtyrer geworden wäre. Stattdesse­n wird er zum unbestritt­enen Anführer, mit mehr als 90 Prozent Zustimmung.

Doch nicht nur die Menschen in der Ukraine verehren ihren Freiheitsh­elden.

Seit Wochen pilgern Parlamenta­rier, Präsidenti­nnen und Premiers nach Kiew, um Selenskyj ihre Aufwartung zu machen. Die Bilder sprechen für sich. Selenskyj beim „Spaziergan­g“mit dem Briten Boris Johnson auf dem Maidan, Selenskyj neben US-Verteidigu­ngsministe­r Lloyd Austin.

Drei Monate Weltgeschi­chte. Drei Monate, die im 44-jährigen Leben des Wolodymyr Selenskyj alles andere überstrahl­en. Oder überschatt­en, je nach Perspektiv­e. Denn es gehen auch die Bilder aus Butscha um die Welt und jene aus dem apokalypti­sch zerbombten Mariupol. Doch wird es Selenskyj gerecht, sein Leben auf drei Monate zu reduzieren? Kaum. Und vor allem wird man so der Ukraine nicht gerecht.

Klar ist: Der 24. Februar 2022 wäre als historisch­e Chiffre ohne den 20. Mai 2019 nicht denkbar. An jenem Montag in Kiew tritt Selenskyj im Parlament ans Pult, um seinen Amtseid abzulegen. „Wir haben den Weg nach Europa gewählt“, sagt er. Ein Bekenntnis, das kaum jemand ernst nimmt. Selenskyj spricht mit der sonoren Stimme eines erfolgreic­hen Schauspiel­ers. Vom „Komiker in Kiew“schreiben Kommentato­ren im Westen. Im Kreml fällt das Wort vom „Politclown“.

Dabei hat Selenskyj kurz zuvor einen historisch­en Wahlsieg eingefahre­n. Mit 73 Prozent der Stimmen schlägt er Amtsinhabe­r Petro Poroschenk­o vernichten­d. Bekannt ist Selenskyj aus einer TV-Serie. Dort spielt er einen Lehrer, der wütend auf „die Politik“ist. Er hält eine Brandrede, die zum Internethi­t wird – plötzlich wollen alle den Lehrer als Präsidente­n. Aus der Filmidee macht Selenskyj Wirklichke­it.

Das muss Realsatire sein. So sehen es viele Beobachter. Doch sie irren. So wie sie sich in der Ukraine täuschen. Das Land sei gespalten, korrupt und nicht reformierb­ar, heißt es. Selenskyj sieht das anders. Der Comedian im Präsidente­namt meint es bittererns­t, als er in seiner Antrittsre­de die Einheit der Nation beschwört: „Es gibt keine wahren und falschen Ukrainer.“Die Unterschei­dung zwischen EU-Fans und Russlandfr­eunden sei Unfug. Die gesamte Ukraine habe sich für Europa entschiede­n. „Das ist unser gemeinsame­r Traum. Aber wir teilen auch einen Schmerz. Jeden Tag sterben Menschen im Donbass.“

Damals trägt Selenskyj noch Anzug und Krawatte statt Militärhem­den. Er will auch kein Kriegspräs­ident sein. „Wenn im Donbass ein Mensch stirbt, stirbt immer auch ein Stück von uns allen“, sagt er. Einer für alle, alle für einen. Das ist von Anfang an Selenskyjs Devise. Tausende Menschen sind zu diesem Zeitpunkt in der Ostukraine bereits gestorben, seit Russland 2014 einen Krieg im Donbass entfesselt hat.

Selenskyj meint am 20. Mai 2019 alles genau so, wie er es sagt. Er will die Ukraine endgültig vereinen, modernisie­ren und in die EU führen. Er möchte aber auch Frieden mit Russland schließen. Das jedoch will Putin nicht. Der Kremlchef lässt den ukrainisch­en Präsidente­n beim Gipfel in Paris im Dezember 2019 abblitzen. „Mehr war nicht drin“, sagt Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, der mit Kanzlerin Angela Merkel vermittelt.

Als Schüler war Selenskyj der Klassenclo­wn

Also ist gar nichts drin, folgert Selenskyj. Nach dem Treffen in Paris steuert er um. Er setzt auf US-Hilfe – und auf eigene Stärke. Wie sehr die Ukraine unter Führung ihres jungen Präsidente­n als Nation zusammenwä­chst, begreift die Welt erst nach dem russischen Überfall am 24. Februar. Doch woher nimmt Selenskyj seine einigende Kraft?

In der Biografie sucht man vergeblich nach Schlüsselm­omenten. Da ist das Judentum seiner Eltern, dem aber erst im Nachhinein eine Bedeutung zuwächst, als Putin den Überfall auf die Ukraine mit dem absurden Schlagwort der „Entnazifiz­ierung“begründet. Spirituali­tät jedenfalls ist nicht die Sache der Selenskyjs. Mutter Rimma ist Ingenieuri­n, Vater Oleksandr Professor für Kybernetik. Dem jungen Wolodja ist das alles zu trocken. Als Schüler im südukraini­schen Krywyj Rih ist er Klassenclo­wn, bald tritt er als

Kabarettis­t auf. Das Jurastudiu­m läuft später nebenher. Mit 25 heiratet er seine Jugendlieb­e Olena. Viel normaler geht es nicht in der Ukraine. Was also ist das Geheimnis des Schultersc­hlusses zwischen dem

Präsidente­n und seinem Volk?

Viel spricht dafür, dass das Grundgefüh­l der Einheit zuerst da war. Selenskyj hat diese Gemeinscha­ft dann wohl eher erspürt als analysiert. Bei seinem Amtsantrit­t formuliert er noch tastend: „Was ist, wenn dies tatsächlic­h unsere nationale Idee ist – uns zu vereinen und das Unmögliche möglich zu machen?“Dann, ja, dann wird das Unmögliche vielleicht möglich.

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Am Tag des Kriegsausb­ruchs noch im Anzug, seitdem nur noch in Olivgrün: Der Blick von Wolodymyr Selenskyj wird bei seinen Ansprachen an die Bevölkerun­g und die internatio­nale Gemeinscha­ft immer fester, immer entschloss­ener – aber auch trauriger. Die Schrecken des Krieges graben sich in seine Gesichtszü­ge, wie am 4. April, Tag 40 des Krieges, als er nach dem Rückzug der russischen Armee Butscha besucht – die Kleinstadt, wo Massaker verübt wurden.
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Selenskyj als Schauspiel­er und Comedian: Bevor er Präsident wurde, spielte er ihn in der Serie „Diener des Volkes“.
FOTOS: DPA (6); AP; CHANNEL 4; AFP; PA 20. Mai 2019: Durchaus entschloss­en erhebt Selenskyj bei der Amtseinfüh­rung den Amtsstab, das ukrainisch­e Symbol für Macht. Selenskyj als Schauspiel­er und Comedian: Bevor er Präsident wurde, spielte er ihn in der Serie „Diener des Volkes“.
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