Das Ende der Stahlwerk-Kämpfer
Teilevakuierung in Mariupol: Mehr als 260 ukrainische Soldaten gehen in Gefangenschaft
Berlin. Sie waren Todgeweihte. Sich selbst gaben sie nur noch wenige Tage. Nun konnten über 260 ukrainische Kämpfer doch das Asow-Stahlwerk in Mariupol verlassen. Sie begeben sich in russische Gefangenschaft – und haben keine schlechte Chance, diese bald und vor allem lebend zu verlassen. Denn die Evakuierung ist womöglich ein Austausch – eine Abmachung zwischen zwei Kriegsgegnern, an dem auch einige internationale Vermittler beteiligt waren, etwa das Rote Kreuz und die Uno. Indes heißt es aus Moskau nur, sie würden nach internationalen Standards behandelt; selbst das scheint dort umstritten zu sein.
Selenskyj: Hoffen, dass wir das
Leben unserer Jungs retten
In Kiew sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache, die Ukraine brauche ihre Helden lebend. Das sei das Prinzip. „Wir hoffen, dass wir das Leben unserer Jungs retten können.“Das Asow-Regiment, das dem russischen Angriff auf die Hafenstadt fast drei Monate lang standhielt, wird im eigenen Land bewundert, international wegen seiner ultranationalistischen Identität allerdings misstrauisch beäugt.
Die Kämpfer verließen den Industriekomplex am Montagabend in Bussen. 211 Soldaten kommen nach ukrainischen Angaben in Oleniwka in der Region Donezk in Gefangenschaft.
Ihre 53 schwer verletzten Kameraden sollen in der nahen, von prorussischen Separatisten kontrollierten Stadt Nowoasowsk in der Ost-Ukraine medizinisch behandelt werden. Nach Angaben der stellvertretende Regierungschefin Iryna Wereschtschuk sollen später die „schwer verletzten Soldaten“gegen russische Gefangene ausgetauscht werden. Die Angaben aus Russland weichen nur minimal von den ukrainischen Zahlen ab. Das russische Militär meldete 265 Gefangene, darunter seien 51 Schwerverletzte.
Bislang schätzte man die Zahl der letzten Verteidiger der Stadt am Asowschen Meer auf etwa 1000, von denen die meisten verletzt sein sollen. Sie haben auch kaum noch Vorräte und Wasser. Vieles war am Dienstag weiterhin unklar: ihre genaue Zahl, ob sie nicht aufgeben wollen oder sollen, ob es im Ukraine-Krieg zu einer förmlichen Kapitulation von Mariupol kommen muss; und nicht zuletzt, wann die
Feuerpause zur Evakuierung endet und die russischen Truppen den Beschuss fortsetzen werden. Das Gelände war immer wieder mit Raketen und Bomben angegriffen worden.
Eine Erstürmung des Stahlwerks haben die russischen Militärs gar nicht erst versucht. Sie scheuten Verluste. Denn militärisch sind die Verteidiger im Vorteil. Vor laufender Kamera hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Militärs befohlen, „blockiert diese Industriezone so, dass nicht einmal eine Fliege rauskommt“. Alle Zugänge wurden versperrt, seit Wochen stand der Industriekomplex unter Dauerbeschuss.
Auch die ukrainischen Militärs haben die Nerven bewahrt und sich auf kein Himmelfahrtskommando eingelassen, um die Blockade zu durchbrechen und die eingekesselten Soldaten freizukämpfen. Im Gegenteil. Solange sie in dem Stahlwerk mit mehreren unterirdischen Etagen Widerstand leisteten, haben sie russische Truppen gebunden. Maljar notiert auf Facebook, dank der Verteidiger von Mariupol habe man „wichtige Zeit für die Formierung von Reserven, eine Umgruppierung der Kräfte und den Erhalt von Hilfe von unseren Partnern erhalten“. Es hatte demnach einen Sinn, sich so lange im Stahlwerk mit seinen unterirdischen Etagen, Bunkern und Tunneln zu verschanzen. Der Generalstab in Kiew hielt militärisch knapp fest: Die Soldaten hätten „ihren Kampfauftrag erfüllt“. Die Kommandeure hätten nun den Befehl, „das Leben“der verbliebenen Soldaten zu „retten“.
Sie stimmten sich innerlich auf „den letzten Kampf“ein
Es hat dazu viele politische Bemühungen gegeben. Die Regierung in Kiew hatte stets gefordert, die Soldaten in der letzten ukrainischen Bastion in ein Drittland zu überstellen. Dafür hatte sich zum Beispiel die Türkei angeboten. Zuletzt wandten sich mehrere Ehefrauen der Kämpfer an die Öffentlichkeit.
„Die Stimmung ist pessimistisch, weil es fast keine Hoffnung auf Rettung gibt“, sagte die Frau eines Kämpfers in dem Interview. „Sie bereiten sich auf den letzten Kampf vor, weil sie nicht an eine diplomatische Lösung glauben.“Aber wie so oft stirbt die Hoffnung zuletzt. Noch besteht die Chance, eine Erstürmung des Stahlwerkes und damit ein Massaker in Mariupol zu verhindern.