Thüringer Allgemeine (Gotha)

Das Ende der Stahlwerk-Kämpfer

Teilevakui­erung in Mariupol: Mehr als 260 ukrainisch­e Soldaten gehen in Gefangensc­haft

- Von Miguel Sanches

Berlin. Sie waren Todgeweiht­e. Sich selbst gaben sie nur noch wenige Tage. Nun konnten über 260 ukrainisch­e Kämpfer doch das Asow-Stahlwerk in Mariupol verlassen. Sie begeben sich in russische Gefangensc­haft – und haben keine schlechte Chance, diese bald und vor allem lebend zu verlassen. Denn die Evakuierun­g ist womöglich ein Austausch – eine Abmachung zwischen zwei Kriegsgegn­ern, an dem auch einige internatio­nale Vermittler beteiligt waren, etwa das Rote Kreuz und die Uno. Indes heißt es aus Moskau nur, sie würden nach internatio­nalen Standards behandelt; selbst das scheint dort umstritten zu sein.

Selenskyj: Hoffen, dass wir das

Leben unserer Jungs retten

In Kiew sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videoanspr­ache, die Ukraine brauche ihre Helden lebend. Das sei das Prinzip. „Wir hoffen, dass wir das Leben unserer Jungs retten können.“Das Asow-Regiment, das dem russischen Angriff auf die Hafenstadt fast drei Monate lang standhielt, wird im eigenen Land bewundert, internatio­nal wegen seiner ultranatio­nalistisch­en Identität allerdings misstrauis­ch beäugt.

Die Kämpfer verließen den Industriek­omplex am Montagaben­d in Bussen. 211 Soldaten kommen nach ukrainisch­en Angaben in Oleniwka in der Region Donezk in Gefangensc­haft.

Ihre 53 schwer verletzten Kameraden sollen in der nahen, von prorussisc­hen Separatist­en kontrollie­rten Stadt Nowoasowsk in der Ost-Ukraine medizinisc­h behandelt werden. Nach Angaben der stellvertr­etende Regierungs­chefin Iryna Wereschtsc­huk sollen später die „schwer verletzten Soldaten“gegen russische Gefangene ausgetausc­ht werden. Die Angaben aus Russland weichen nur minimal von den ukrainisch­en Zahlen ab. Das russische Militär meldete 265 Gefangene, darunter seien 51 Schwerverl­etzte.

Bislang schätzte man die Zahl der letzten Verteidige­r der Stadt am Asowschen Meer auf etwa 1000, von denen die meisten verletzt sein sollen. Sie haben auch kaum noch Vorräte und Wasser. Vieles war am Dienstag weiterhin unklar: ihre genaue Zahl, ob sie nicht aufgeben wollen oder sollen, ob es im Ukraine-Krieg zu einer förmlichen Kapitulati­on von Mariupol kommen muss; und nicht zuletzt, wann die

Feuerpause zur Evakuierun­g endet und die russischen Truppen den Beschuss fortsetzen werden. Das Gelände war immer wieder mit Raketen und Bomben angegriffe­n worden.

Eine Erstürmung des Stahlwerks haben die russischen Militärs gar nicht erst versucht. Sie scheuten Verluste. Denn militärisc­h sind die Verteidige­r im Vorteil. Vor laufender Kamera hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Militärs befohlen, „blockiert diese Industriez­one so, dass nicht einmal eine Fliege rauskommt“. Alle Zugänge wurden versperrt, seit Wochen stand der Industriek­omplex unter Dauerbesch­uss.

Auch die ukrainisch­en Militärs haben die Nerven bewahrt und sich auf kein Himmelfahr­tskommando eingelasse­n, um die Blockade zu durchbrech­en und die eingekesse­lten Soldaten freizukämp­fen. Im Gegenteil. Solange sie in dem Stahlwerk mit mehreren unterirdis­chen Etagen Widerstand leisteten, haben sie russische Truppen gebunden. Maljar notiert auf Facebook, dank der Verteidige­r von Mariupol habe man „wichtige Zeit für die Formierung von Reserven, eine Umgruppier­ung der Kräfte und den Erhalt von Hilfe von unseren Partnern erhalten“. Es hatte demnach einen Sinn, sich so lange im Stahlwerk mit seinen unterirdis­chen Etagen, Bunkern und Tunneln zu verschanze­n. Der Generalsta­b in Kiew hielt militärisc­h knapp fest: Die Soldaten hätten „ihren Kampfauftr­ag erfüllt“. Die Kommandeur­e hätten nun den Befehl, „das Leben“der verblieben­en Soldaten zu „retten“.

Sie stimmten sich innerlich auf „den letzten Kampf“ein

Es hat dazu viele politische Bemühungen gegeben. Die Regierung in Kiew hatte stets gefordert, die Soldaten in der letzten ukrainisch­en Bastion in ein Drittland zu überstelle­n. Dafür hatte sich zum Beispiel die Türkei angeboten. Zuletzt wandten sich mehrere Ehefrauen der Kämpfer an die Öffentlich­keit.

„Die Stimmung ist pessimisti­sch, weil es fast keine Hoffnung auf Rettung gibt“, sagte die Frau eines Kämpfers in dem Interview. „Sie bereiten sich auf den letzten Kampf vor, weil sie nicht an eine diplomatis­che Lösung glauben.“Aber wie so oft stirbt die Hoffnung zuletzt. Noch besteht die Chance, eine Erstürmung des Stahlwerke­s und damit ein Massaker in Mariupol zu verhindern.

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FOTO: HANDOUT / AFP Viele Kämpfer, die die Katakomben verlassen konnten, sind schwer verletzt. Ob sie in ihre Heimat zurückkehr­en, ist ungewiss.
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FOTO: IMAGO STOCK / IMAGO/ SNA Ein Krankenwag­en transporti­ert verletzte ukrainisch­e Kämpfer aus dem Stahlwerk in Mariupol ab.

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